STECKBRIEF
Staat
Zum Wort
Das lateinische Wort status mit der Bedeutung Zustand, Lage, Verfasstheit verlangte grammatikalisch ein Genitivattribut: status rei publicae; status civitatis – ‘Zu-Stand des Gemeinwesens’.
DISKURS 1
Ein strukturtheoretischer Staatsbegriff entstand im 16. Jahrhundert im Diskurs der neuzeitlichen politischen Theorie als das Wort stato zu einem Nomen wurde, das ohne Attribut stehen und damit eine selbständige Sache bezeichnen konnte.
DISKURS 2
In einem herrschaftstheoretischen Diskurs der Neuzeit verknüpft ein machtpolitischer Staatsbegriff das Konzept mit dem Thema der Zentrierung von Macht (Absolutismus), der Staatsraison (Ragione di Stato), der Souveränität und des Gewaltmonopols.
DISKURS 3
In einem aristotelischen und christlich-naturrechtlichen Diskurs bindet ein gemeinwohlorientierter Staatsbegriff Staat an die ‘gemeinsame Sache’ (res publica), an Gemeinwohl (bonum commune), Schutz und das aristotelische Strebensziel der eudaimonia (‘Glückseligkeit’).
Der Begriff Staat – Zur Struktur, zur Begriffsgeschichte und zu seiner Anwendung in der Altorientalistik.
Ein Begriffsbericht.
Eva Cancik-Kirschbaum, Aron Dornauer, Jörg Klinger, Werner Kogge, Lisa Wilhelmi
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
3
Einleitung (W. Kogge)
8
I. Der Begriff Staat – Eine kriteriologisch-begriffsgeschichtliche Synopse (W. Kogge)
13
I.1 Zum Wort Staat
13
I.2 Die Entstehung eines strukturtheoretischen Staatsbegriffs
19
I.3 Zum machttheoretischen Staatsbegriff
25
I.4 Zum wohlfahrtsorientierten Staatsbegriff
34
I.5 Kommentar zu Stand und Problematik der Begriffsgeschichtsschreibung
44
II. „Staat“ als heuristisch-deskriptiver Begriff für politisch-gesellschaftliche Strukturen im Alten Orient: Assur und Hatti in der späten Bronzezeit
47
Vorbemerkung (E. Cancik-Kirschbaum, J. Klinger)
47
II.1 Das mittelassyrische māt Aššur als historischer Evidenzraum für „Staat“ und „Staatlichkeit“ (A. Dornauer, E. Cancik-Kirschbaum)
48
Wortkompositionen und Ersatzbegriffe
49
Die Eigenart des mittelassyrischen Staates: Territorialität
51
Mittelassyrische Herrschaftskonzepte
52
II.2 Bericht zum Forschungsstand zum Themenbereich „Staat“ in der mittelassyrischen Zeit (A. Dornauer)
55
Zielsetzung
55
Vorgehensweise
55
Universalhistorische Modelle
56
Von K. Marx und F. Engels inspirierte Modelle
57
Von M. Weber inspirierte Modelle
60
Diffuse Staatskonzepte
62
Zur Ideologie und Legitimation des mittelassyrischen Staates – zum Königtum
63
Zu Ethos und Kultur des (mittelassyrischen) Staats
63
Zur Entstehung der mittelassyrischen Staatsideologie
67
Zur Rolle des Königs im Staat und im Staatskult
68
Akteure neben dem König
69
Funktionsträger
69
Der šar māt Hanigalbat — zum Vizekönigtum in Obermesopotamien
71
Teilsesshafte Akteure im Staatsgebiet
73
Personal als staatliche Ressource
75
„Körperschaften“ und Gliederungen des mittelassyrischen Staats
77
bītu „Haus, Haushalt“
77
É.GAL (ekallu) und die staatlich-palatiale Ökonomie
78
Das sogenannte mittelassyrische Provinz-System
80
Staatsgebiet
81
Zur Frage der Eigenbegrifflichkeit (māt Aššur)
81
3 Typen assyrischer Staatlichkeit: Stadtstaat, Flächenstaat, Reich
83
(Zum) altassyrischen Stadtstaat
83
Flächenstaat/Territorial state
84
Reich/Empire
85
Granularität und Intensität von Staatlichkeit (network-empire vs. Territorial-hegemoniales Modell)
87
Ausgangslage
87
Grobe Granularität, nur punktuell sehr starke Intensivität
88
Territorial-hegemoniales Modell Assyrischer Staatlichkeit
90
Plädoyers für differenziertere Modelle
92
Außenverhältnis des mittelassyrischen Staates zu anderen Staaten
93
Erosion, Rückbau und Rückgang von Staatlichkeit
95
II.3 Hatti als Evidenzraum für „Staat“ (J. Klinger)
99
Einleitung
99
Zum Staatsbegriff und seiner Anwendung
100
Herrscherbezeichnungen
100
Neoevolutionistische Modelle und ihre Anwendung
102
Die Hethiter und die Suche nach dem Indogermanischen
106
Die Hethiter in ersten historischen Darstellungen
109
Die Hethiter und die völkisch-rassistische Forschung
112
Die Hethiter und der Staatsbegriff
112
Die Periodisierung der hethitischen Geschichte
114
Staat und state
115
Beispiele für die Interpretation hethitischer Staatlichkeit
116
Die Diskussion um eine hethitische „Verfassung“
118
Die Hethiter in der Empire-Debatte
120
II.4 Die Verwendung des Begriffes „Staat“ und einiger Ausweichbegriffe in der hethitologischen Forschung – Ein Begriffsbericht. (L. Wilhelmi)
120
Einleitung
120
Staatsbegriff und Staatsmodelle
123
Diskussion hethitischer Staatlichkeit und rechtshistorische Einordnung
124
Überlegungen zu Beginn und Entwicklung der hethitischen „Staatlichkeit“
127
Die Verwendung des Begriffes ‚Staat‘ und seiner Ausweich‑, Ersatz- und Entsprechungsbegriffe im Verlauf der Forschungsgeschichte
131
„The Empire of the Hittites“ und das „Reich der Hethiter“ in Nordsyrien
131
Die Verschiebung des „Ḫeta-Landes“ nach Kleinasien und die Abgrenzung der Zeit des ‚Großreichs‘
134
Die Rekonstruktion eines hethitischen ‚Feudalstaats‘
137
Einordnung des hethitischen Staatsmodells in ein staatliches Evolutionsmodell
141
Strukturelle Untersuchungen zu Verwaltung und Organisation eines mehr oder weniger zentralisierten Staates
146
Imperialismus und Empire Studies
155
Begrifflichkeit rezenter historischer Überblickswerke
163
Zusammenfassende Bemerkungen
171
Literaturverzeichnis
173
Die Endfassung des Textes wird in Kürze an dieser Stelle aufrufbar sein
Kriterien des Begriffs
Erläuterungen zum Zustandekommen, zu Status und Funktion der nachfolgenden kriteriellen Bestimmungen finden Sie hier.
(1.) Das Kriterium der Regelungsstruktur: Der Staatsbegriff ist kriteriell an die Wahrnehmung bzw. Erfahrung gebunden, dass ein Ordnungs- oder Strukturzusammenhang besteht, in dem überhaupt etwas zu regeln/ geregelt ist. Im Unterschied etwa zu einer zufälligen, spontanen, unorganisierten oder kurzfristigen Ansammlung von Individuen (z.B. Pilgerfahrt; Demonstration; Flashmob) und im Unterschied zu unorganisierten Agglomeraten (z.B. von Neusiedlern in einem Land) stellt sich für Staaten die Aufgabe struktureller Regelungen. Diese Aufgabe unterscheidet Staaten andererseits auch von Gemeinwesen wie z.B. totalitären Sekten, in denen keine strukturellen Regelungen be-stehen, sondern je willkürliche und idiosynkratische Weisungen erfolgen (vgl. Führerprinzip).
Als Systeme nicht-spontaner, struktureller Regelungen weisen Staaten Beschaffenheiten auf, was kriteriell mit der Möglichkeit verbunden ist, sich zu Staaten in ein Verhältnis zu setzen: Sowohl die in einem Staat lebenden Individuen als auch im Staat Herrschende, zur Herrschaft Strebende oder Akteure von außen verhalten sich zu einem Staat. Diese Figur des ‘Verhaltens zu einer eigengesetzlichen Einheit’ und die damit verbundene ‘Klugheit’ und Strategik ist der Sprachgebrauch, der durch Machiavelli prominent wurde und den Staatsbegriff seitdem kriteriell bestimmt (vgl. die Begriffsgeschichte von ‘Staatsraison’).
(2): Das Kriterium der formalen Institutionen: Von Staat zu sprechen, bedeutet gemäß dieses Kriteriums, Gemeinwesen mit formalen Institutionen von solchen zu unterscheiden, die solche nicht ausbilden. ‘Staat’ heißen demnach organisierte Kollektive, in de-nen ständige, institutionalisierte Funktionsstellen, ‘Planstellen’ bestehen, im Unterschied zu solchen Kollektiven, die zwar ‘Rollen’ (Vaterrolle; Mutterrolle; Feldherrenrolle, Priesterrolle) aufweisen, aber keine institutionalisierten Stellen (Ämter), die ‘besetzt’ werden können. Von ‘Staat’ zu sprechen impliziert die Annahme von Regelungen zweiter Stufe: Geregelt ist hier auch, wie verfahren wird (z.B. wer, wann, was werden kann, für welche Zeit und mit welchen Aufgaben und Befugnissen); das Prozedurale ist konstitutiv. Nach diesem Kriterium unterscheiden sich Staaten von Gemeinwesen, die begrifflich mit ‘Großfamilie’, ‘Clan’, ‘Sippe’, ‘Stamm’, ‘Volk’, ‘Ethnie’ gefasst werden; bzw. ein Übergang zu ‘Staat’ ist demnach begrifflich genau dann und insofern gerecht-fertigt, wie formale Institutionen und Prozeduren ausgebildet werden. (Zu diesem Kriterium vgl. Max Weber: Staatssoziologie; hier zum Fachbeamtentum und zur Konstituierung eines Verwaltungsstabes ohne Verwaltungsmittel).
(3.): Das Kriterium der Autonomie: Staat bezeichnet demnach Gemeinwesen, die eine eigene Ordnung bilden (gleich ob durch explizite Gesetze oder durch implizite Regelungen, Gebräuche und Gewohnheiten), die weitgehend frei ist von nicht selbstbestimmten Ordnungsvorgaben. Das impliziert die Abgrenzung zu anderen organisierten Kollektiven, die einer externen Regelungsinstanz unterliegen (selbst wenn sie Regelungen zweiter Stufe und Verwaltungen ausbilden (z.B. Tempel, Kirchen, Konzerne, NGOs, Parteien, Gewerkschaften). Das Autonomiekriterium bindet den Staatsbegriff nicht notwendig an einen herrschaftstheoretischen Diskurs. Es muss keine souveräne, absolute Machtposition vorausgesetzt werden, damit sich eine Integration zur Einheit ‘Staat’ vollziehen kann (während dies umgekehrt in nicht-staatlichen Organisationen gegeben sein kann). Dies kann auch zum Beispiel auch auf Grund von Motiven geschehen, die in gemeinsamen Zielen, Werten, Lebensformen oder an Herstellung von Gemeinwohl orientiert sind. (Zu diesem Kriterium vgl. Georg Jellinek zum ‘Wesen von Souveränität’ und zur Autonomie (Allg. Staatslehre: 474–489))
(4.) Das Kriterium der Lebensdurchdringung und Identität: Bündnisse wie Handels-verbände (Neuzeit: Hanse), Kriegs‑, Schutz- und Zweckbündnisse unterscheiden sich nach diesem Kriterium von Staaten dadurch, dass sie das Leben der Staatsangehörigen nur in einem limitierten Aspekt, nicht umfassend betreffen. Von Staat zu sprechen impliziert Regelungen, die prinzipiell alle Lebensbereiche betreffen (Bildung, Gesundheit, Umgang mit Verstorbenem etc.), weshalb eine Sphäre des Privaten in Staaten explizit ausgeklammert werden muss. Der Staatsbegriff impliziert Staatsangehörigkeit in einem mehr als nur zweckrationalen Sinne. Durch ihre Lebensdurchdringung schaffen Staaten Zugehörigkeit, die sich als Bindung an den Staat im Sinne von Identifikation fassen lässt, auch wenn keine explizite Selbstzuschreibung der Staatsangehörigen in diesem Sinne zu beobachten ist. (Zu diesem Kriterium vgl. Aristoteles: Politik 1280a‑b u. VERWALTUNGSGERICHT KÖLN. 03.05.1978, Az. 9 K 2565/77. In: Deutsches Verwaltungsblatt (1978), S. 510 ff.)
Empfehlung zum Gebrauch
Für die ‘Wissenschaften Alter Kulturen’ (generell nicht-moderner Kulturen) ist ein Staatsbegriff nützlich, der sich vom spezifisch machttheoretischen Narrativ zur Entstehung moderner (National-)staaten unabhängig macht, ohne seine Unterscheidungskraft einzubüßen (indem er letztlich jegliches organisiertes Gemeinwesen bezeichnet). Die Distinktionskraft des Staatsbegriffs ist demnach an Kriterien zu knüpfen, die eine spezifische Organisationsform bezeichnet, ohne dass die für die Moderne charakteristische Verknüpfung von Staatlichkeit mit der Konkurrenz von Nationen, der Monopolisierung von Gewalt und der Definition von beherrschtem Territorium (einheitliche Fläche mit scharfen Grenzen) und Bevölkerung vorausgesetzt werden. Ein Staatsbegriff, der ohne diese Zuschreibungen auskommt, kann seine Unterscheidungsleistung durch vier Kriterien konstituieren. Die Kriterien sind dabei so zu verstehen, dass von Staat desto berechtigter gesprochen werden kann, je ausgeprägter die kriteriellen Merkmale beobachtet werden können. Die vier kriteriellen Merkmale sind dabei jeweils als notwendige und erst gemeinsam als hinreichende Bedingung zu verstehen, so dass dann gemäß dieser Empfehlung von ‘Staat’ gesprochen werden kann, wenn alle vier Merkmale in deutlicher Ausprägung vorliegen. Je stärker sich jedes einzelne Merkmal und alle vier in Kombination in einem empirischen Phänomen aufweisen lassen, desto unzweifelhafter kann für diesen Fall von Staat gesprochen werden.
Die Kriterien sind:
(1) Das Kriterium der Regelungsstruktur
(2) Das Kriterium der formalen Institutionen
(3) Das Kriterium der Autonomie
(4) Das Kriterium der Lebensdurchdringung und Identität
Zur Erläuterung dieser Kriterien siehe Kriterien des Begriffs
Werner Kogge