Bricolage

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Bricolage

Substantiv des fran­zö­si­schen bri­co­ler, das ent­we­der ‘hand­werk­lich tätig sein’ oder ‘etw. ama­teur­haft instal­lie­ren’ bedeutet

Version 1.0 (14.04.2023)

Autorin: Anna-Maria Gasser (AG)

Zum Wort
Das seit dem 20. Jh. belegte fran­zö­si­sche Substantiv bri­co­lage bezeich­net das Ergebnis oder den Prozess des bri­co­ler; sei­ner­seits abge­lei­tet von bri­cole (im moder­nen Sprachgebrauch ‚kleine, unbe­deu­tende Sache, Arbeit oder Tätigkeit‘), bedeu­tet das Verb ent­we­der ‚hand­werk­lich tätig sein‘ oder (zum Teil pejo­ra­tiv) ‚etw. ama­teur­haft instal­lie­ren‘. Ebenfalls in den moder­nen Sprachgebrauch ein­ge­gan­gen ist die Begriffsprägung durch Lévi-Strauss 1962 als ‚impro­vi­sierte, an die vor­han­de­nen Materialien und Umstände ange­passte Arbeit‘. Im Anschluss an Lévi-Strauss ist der Begriff auch als Lehnwort in andere Sprachen über­nom­men wor­den; seine jewei­li­gen Übersetzungen (dt.: ‚Bastelei‘, ‚Tüfteln‘ ‚Heimwerken‘; engl.: ‚Do-it-yours­elf‘, ‚tin­ke­ring‘) bil­den z.T. nicht den gesam­ten Lévi-Strauss’schen Begriff ab, son­dern rekur­rie­ren v.a. auf den Wortgebrauch in der frz. Gemeinsprache oder sind ana­log zu ihm gebildet.(AG)
Quellen:
„bri­co­lage“, „ bri­co­ler“, „bri­cole“, Le Grand Robert de la lan­gue fran­çaise. Paris 2008 — https://grandrobert.lerobert.com/robert.asp (besucht am 11.11.2022)
„bri­co­lage“, Oxford English Dictionary 
LÉVI-STRAUSS, Claude: La pen­sée sau­vage. Paris 1962; deutsch: Das wilde Denken. Übersetzung von Hans Naumann. Frankfurt am Main 1968. 

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte


























  1. Diskurse und Kontexte
    1. In der fran­zö­si­schen Gemein- und Wirtschaftssprache bezeich­net das Wort (ana­log zum zum engl. ‚Do-it-yours­elf‘ (DIY)) seit dem 20. Jh. hand­werk­li­che Tätigkeiten, wie Reparaturen, Aus- und Umbauten oder die Herstellung von Gebrauchs- und Kunstgegenständen durch Basteln und Heimwerken im nicht-pro­fes­sio­nel­len Kontext. Die für ‚bri­co­lage‘ not­wen­di­gen Produkte und Mittel wer­den in ‚magasins du bri­co­lage‘ (Baumärkten) und ‚gran­des sur­faces du bri­co­lage (GSB)‘ (Großmärkten) ver­trie­ben, von denen viele den Terminus in ihrem Namen ver­ar­bei­ten (z.B. Bricomarché, Mr Bricolage, Les Briconautes). (AG)

      Quellen:
      https://fr.wikipedia.org/wiki/Bricolage (besucht am 11.11.2022)
      https://fmbricolage.com (besucht am 11.11.2022)
    2. Für den Diskurs des anthro­po­lo­gi­schen Strukturalismus war die Begriffsverwendung durch den Ethnologen und Anthropologen Claude LÉVI-STRAUSS prä­gend. In sei­nem Buch Das wilde Denken (1962/1968) ent­fal­tet er eine „Theorie“ der B., „die ebenso der Erkundung einer aktu­el­len Praktik des wil­den Denkens dient, die sich inner­halb des Bereichs des domes­ti­zier­ten Denkens erhal­ten hat, wie auch der Veranschaulichung des mythi­schen Denkens der ›Wilden‹“. (BIES 2018) Für LÉVI-STRAUSS‘ Begriff der B., deren Ziele, Mittel und Arbeitsweisen er im Vergleich mit der Arbeit des Ingenieurs pro­fi­liert, sind die Improvisation und die dadurch impli­zierte Anpassung an das Vorhandene kenn­zeich­nend. Während der Ingenieur „ziel­ge­rich­tet“ (KUESTER 2013, 89) einen vor­ge­fass­ten Plan umsetzt und von den hier­für not­wen­di­gen Mitteln abhän­gig ist, bestim­men umge­kehrt die vor­han­de­nen, begrenz­ten und – gemäß einer ursprüng­li­chen Funktion von bri­co­ler, „eine nicht vor­ge­zeich­nete Bewegung zu beto­nen“– „abwegig[en]“ Ressourcen (moy­ens détour­nés; „Abfälle und Bruchstücke“, des bri­bes et des morceaux, LÉVI-STRAUSS 1962/1968, 29 u. 35) die Arbeit des bri­coleurs. Analog ver­fahre das mythi­sche Denken der ‚Wilden‘ bzw. ‚Naturvölker‘ im Gegensatz zur moder­nen Wissenschaft, indem es immer wie­der neue Mythen aus den Strukturen älte­rer gene­riert. Umstritten sind der „Spielraum“ die­ser „intel­lek­tu­el­len Bastelei“ (bri­co­lage intellec­tuel, LÉVI-STRAUSS 1962/1968, 29) „im Umgang mit dem Überlieferten“ (STIERLE, 458) und ihre Zeitlichkeit: Einerseits bedeu­tet das Konzept eine „Umkehrung“ der „Struktur und Manifestation“ der Mythen (STIERLE 1971, 457), indem ers­tere Signifikant und letz­tere Signifikat wird, und der Ausdruck von der „poé­sie du bri­co­lage“ (LÉVI-STRAUSS 1962/1968, 34) sug­ge­riert die Entstehung krea­ti­ver Mythenrezeptionen. Damit scheint B. als mytho­lo­gi­sche Tätigkeit eine „dia­chro­ni­sche Erstreckung des Mythos“ (STIERLE 1971, 457) zu impli­zie­ren und sin­gu­lär dia­chro­nes Denken inner­halb des LÉVI-STRAUSS’schen Strukturalismus zu ermög­li­chen (so Derrida, Deleuze, Stierle, s. FRASER 2018, 174); ande­rer­seits erscheint die mytho­lo­gi­sche B., deren Elemente (die „Beziehungsbündel“ der Mythen, LÉVI-STRAUSS 1977, 232) „von vorn­her­ein ein­ge­schränkt“ sind („pré­con­traints“, LÉVI-STRAUSS 1962/1968, 32; zum von „le béton pré­con­traint“, „Spannbeton“, abge­lei­te­ten Terminus s. FRASER 2018, 174) und sich immer nur wie im Kaleidoskop „nach vor­ge­schrie­be­nen Mustern“ rekon­fi­gu­rie­ren (FRASER 2018, 175, s. LÉVI-STRAUSS 1962/1968, 50), nicht als aktive und krea­tive, son­dern viel­mehr restau­rie­rende Tätigkeit mit dem Ziel, die ursprüng­li­chen, dia­chron in Unordnung gera­te­nen Mythenstrukturen wie­der­her­zu­stel­len. Hierbei komme der Anthropologie eine unter­stüt­zende Rolle zu (FRASER 2018, 177). (AG)

      Quellen:
      BIES, Michael: 1962. „Claude Lévi-Strauss und das wilde Basteln“. In: ZANETTI, Sandro (Hg.): Improvisation und Invention. Momente, Modelle, Medien. Zürich 2018, 205–15.
      FRASER, Jack: „Bricoleur, Ingenieur, Dekonstrukteur: Lévi-Strauss, Luhmann und die Zeiten des Strukturalismus“. In: ENDRES, Martin, HERRMANN, Leonhard (Hgg.): Strukturalismus, heute. Abhandlungen zur Literaturwissenschaft. Stuttgart 2018, 169–87.
      KUESTER, Martin: „Bricolage/Bricoleur“. In: NÜNNING, A. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5. Aufl. Stuttgart 2013, 89f. 
      LÉVI-STRAUSS, Claude: La pen­sée sau­vage. Paris 1962, zitiert nach: Das wilde Denken. Übersetzung von Hans Naumann. Frankfurt am Main 1968. 
      LÉVI-STRAUSS, Claude: Strukturale Anthropologie I. Frankfurt am Main 1967/1977.
      STIERLE, Karlheinz: „Mythos als ‚B.‘ und zwei Endstufen des Prometheusmythos“. In: FUHRMANN, Manfred (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München 1971, 455–472.
    3. Im Diskurs um den Strukturalismus als Methode der Literaturkritik und ‑wis­sen­schaft hat Gérard GENETTE den Begriff der B., den Lévi-Strauss zur Beschreibung des „mythi­schen Denkens“ geprägt hat, auf eine moderne Form des Denkens appli­ziert: die Literaturkritik bzw. die Literaturwissenschaft (sein Begriff „cri­tique lit­té­raire“ umfasst bei­des, dazu noch eine „lite­ra­ri­sche Funktion“ (fon­c­tion lit­té­raire), da ein Kritiker auch immer selbst Autor ist, GENETTE 1966, 146f.). Er über­trägt LÉVI-STRAUSS‘sche Begriffspaar Ingenieur/bri­coleur (s. 1.2) direkt auf das Verhältnis von Autor und Literaturkritiker/-wis­sen­schaft­ler: Während dem Autor (bei­spiels­weise von Romanen, roman­cier) pri­märe und unend­li­che Ressourcen – das Universum – zur Verfügung stün­den, seien die Mittel des ‚Kritikers‘ (cri­tique) – die Literatur – sekun­där und begrenzt (GENETTE 1966, 148). Ebenso sei für die ‚Literaturkritik‘ die „stän­dige Umkehrung“ von Signifikant und Signifikat, von Zeichen und Bedeutung, cha­rak­te­ris­tisch: „Mais ce qui était signe chez l‘écrivain (l’œuvre) devi­ent sens chez le cri­tique (puis­que objet du dis­cours cri­tique), et d’une autre façon ce qui était sens chez l‘écrivain (sa vision du monde) devi­ent signe chez le cri­tique, comme thème et sym­bole d’une cer­tain nature lit­té­raire.“ (GENETTE 1966, 148). Anders jedoch als der LÉVI-STRAUSS’sche (intel­lek­tu­elle) bri­coleur, des­sen mythi­sches Denken sich auf andere Objekte rich­tet als das wis­sen­schaft­li­che Denken – die Provenienz sei­ner eige­nen Objekte, der ursprüng­li­chen Mythenstrukturen, bleibt im Dunkeln –, ist der bri­coleur bei GENETTE direkt auf den Autor und sein Werk bezo­gen: Als „méta-lit­té­ra­ture“ (GENETTE 1966, 146) beschäf­tigt sich die B. nicht nur mit dem Objektbereich, dem sie selbst ent­stammt, son­dern bleibt auch immer kon­kre­ten lite­ra­ri­schen Werken ver­haf­tet; umge­kehrt dürfte der Kritiker auch Einfluss auf den Autor haben. (AG)

      Quellen:
      BROOKER, Peter: „Bricolage“. In: DERS. (Hg.): A Glossary of Cultural Theory, 2. ed., Oxford 2003, 21–2.
      FRASER, Jack: „Bricoleur, Ingenieur, Dekonstrukteur: Lévi-Strauss, Luhmann und die Zeiten des Strukturalismus“. In: ENDRES, Martin, HERRMANN, Leonhard (Hgg.): Strukturalismus, heute. Abhandlungen zur Literaturwissenschaft. Stuttgart 2018, 169–87.
      GENETTE, Gerard: „Structuralisme et cri­tique lit­té­raire“. In: DERS.: Figures I. Paris 1966. 
    4. Im post­struk­tu­ra­lis­ti­schen Diskurs der Dekonstruktion hat Jacques DERRIDA eine uni­ver­sa­li­sie­rende Erweiterung des LÉVI-STRAUSS’schen Begriffs B. vor­ge­nom­men, die in der Auflösung der Begriffsopposition bri­coleur/Ingenieur mün­det. Die von ihm und ande­ren Poststrukturalisten grund­sätz­lich posi­tiv bewer­tete, da anti­struk­tu­ra­lis­ti­sche B. (FRASER 2018, 172) cha­rak­te­ri­siere nicht nur das mythi­sche Denken: „Nennt man Bastelei die Notwendigkeit, seine Begriffe dem Text einer mehr oder weni­ger kohä­ren­ten und zer­fal­le­nen Überlieferung ent­leh­nen zu müs­sen, dann muss man zuge­ben, daß jeder Diskurs Bastelei ist.“ (DERRIDA 1967/1972, 431). Der Ingenieur, der etwas aus dem Nichts erschaffe, exis­tiere gar nicht; er sei ein „vom Bastler erzeugte Mythos“ (DERRIDA 1967/1972, 431). Auch das domes­ti­zierte, modern-wis­sen­schaft­li­che Denken „ver­mag sich letzt­lich auch nur als ein bas­teln­des, wil­des und impro­vi­sie­ren­des Denken zu begrün­den und für ‚Einfälle‘ und ‚Erfindungen‘ offen­zu­hal­ten“. (BIES 2018 zu DERRIDA 1967/1972, 431–432). Ebenso kann man im Anschluss an Derrida fest­stel­len, dass LÉVI-STRAUSS selbst bri­coleur und auch die Dekonstruktion eine Art B. ist (BROOKER 2003, 22). Damit geht auf DERRIDA der Topos zurück, ganze Wissen(schafts)sbereiche als B. zu betrach­ten (vgl. z.B. GROSSBERG, NELSON & TREICHLER 1992, 2 zur „metho­do­logy of Cultural Studies“). (AG)

      Quellen:
      BIES, Michael: 1962. „Claude Lévi-Strauss und das wilde Basteln“. In: ZANETTI, Sandro (Hg.): Improvisation und Invention. Momente, Modelle, Medien. Zürich 2018, 205–15.
      BROOKER, Peter: „Bricolage“. In: DERS. (Hg.): A Glossary of Cultural Theory, 2. ed., Oxford 2003, 21–2.
      DERRIDA, Jacques: „La struc­ture, le signe et le jeu dans le dis­cours des sci­en­ces humaines“. In: DERS.: L’ écri­ture et la dif­fé­rence. Paris 1967, 409–428. Zitiert nach: DERRIDA, Jacques: „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“. In: DERS.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main 1972, 422–42.
      FRASER, Jack: „Bricoleur, Ingenieur, Dekonstrukteur: Lévi-Strauss, Luhmann und die Zeiten des Strukturalismus“. In: ENDRES, Martin, HERRMANN, Leonhard (Hgg.): Strukturalismus, heute. Abhandlungen zur Literaturwissenschaft. Stuttgart 2018, 169–87..
      GROSSBERG, Lawrence, NELSON, Cary & TREICHLER, Paula (Hgg.): Cultural Studies. London / New York 1992. 
    5. Im Diskurs zu den Künsten der Avantgarden des frü­hen 20. Jahrhunderts wird B. syn­onym zu „Collage“ (zu frz. col­ler: kle­ben) und „Montage“ (zu frz. mon­ter: auf­bauen, mon­tie­ren) ver­wen­det, um den Stil der neuen Techniken künst­le­ri­scher Komposition der Moderne in der Photokunst, dem Film, dem Theater sowie der bil­den­den und per­for­ma­ti­ven Kunst zu bezeich­nen (VOIGTS-VIRCHOW 2013, 540; BROOKER 2003, 22). B. beschreibt also „ästhe­ti­sche Verfahren und Werke, die aus urspr. sepa­ra­ten Teilen unter­schied­li­cher Herkunft etwas Neues zusam­men­set­zen (…)“ und deren „Partikel unver­mit­telt zusam­men­ge­fügt sind, hete­ro­gen blei­ben und als erkenn­bare Bruchstücke inho­mo­gen wir­ken“. Indem der Begriff „Arbeiten mit Fertigteilen oder objets trou­vés“ bezeich­net (VOIGTS-VIRCHOW 2013, 540), steht er für avant­gar­dis­ti­sche Gegenentwürfe zum orga­ni­schen Kunstwerk, die ihr „‘Gemacht-Sein‘ zur Schau [stel­len]“ (FEUCHERT 2013, 93) und als „Paradigma der Moderne“ ins­ge­samt gel­ten kön­nen. (Bürger, zitiert von VOIGTS-VIRCHOW 2013, 541). (AG)

      Quellen:
      BROOKER, Peter: „Bricolage“. In: DERS. (Hg.): A Glossary of Cultural Theory, 2. ed., Oxford 2003, 21–2.
      FEUCHERT, Sascha: „Bürger, Peter“. In: NÜNNING, A. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5. Aufl. Stuttgart 2013, 93. 
      KACZMAREK, Ludger: „Bricolage“, Das Lexikon der Filmbegriffe, https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/b:bricolage-2148 (besucht am 15. Januar 2023). 
      VOIGTS-VIRCHOW, Eckart: „Montage/Collage“. In: NÜNNING, A. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5. Aufl. Stuttgart 2013, 167f. 
    6. Im Diskurs der post­struk­tu­ra­lis­ti­schen Literatur- und Kulturtheorie „wird B. zu einer Form der Intertextualität“ (KUESTER 2013, 90, ohne Angabe von Quellen). Je nach­dem, ob ein „deskrip­ti­ver“ Intertextualitätsbegriff ange­legt wird, um die Anspielungen eines Textes auf einen ande­ren zu bezeich­nen, oder ein onto­lo­gi­scher zur „Bezugnahme auf sämt­li­che Arten von bedeu­tungs­tra­gen­den Äußerungen“ (ACZEL 2013, 349), wird B. ent­we­der für Textformen, die ältere Texte rekon­tex­tua­li­sie­ren, etwa die Parodie, oder in einem umfas­sen­de­ren Sinn für Anspielungen und Zitate in post­mo­der­nen Kunstformen ver­wen­det. In der post­mo­der­nen Theorie wie­derum ist B. in dem ers­ten (deskrip­ti­ven) Sinn ebenso nega­tiv kon­no­tiert wie etwa der Terminus Pastiche (KUESTER 2013, 90, ohne Angabe von Quellen). (AG)

      Quellen:
      ACZEL, Richard: „Intertextualität und Intertextualitätstheorien“. In: NÜNNING, A. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5. Aufl. Stuttgart 2013, 349–51.
      BROOKER, Peter: „Bricolage“. In: DERS. (Hg.): A Glossary of Cultural Theory, 2. ed., Oxford 2003, 21–2.
      KACZMAREK, Ludger: „Bricolage“, Das Lexikon der Filmbegriffe, https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/b:bricolage-2148 (besucht am 15. Januar 2023). 
      KUESTER, Martin: „Bricolage/Bricoleur“. In: NÜNNING, A. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5. Aufl. Stuttgart 2013, 89f. 
    7. Der epis­te­mo­lo­gi­sche Diskurs rekur­riert auf den B.-Begriff LÉVI-STRAUSS‘, um „ein ande­res Bild von der Wissenschaft, ins­be­son­dere von der Forschung [zu] ent­wer­fen“: einer auf das Wilde, Konkrete statt auf das Abstrakte, Theoretische gerich­te­ten Forschung, deren Akteur „kein – theo­rie­ge­lei­te­ter – Ingenieur ist, son­dern ein Bastler“, und deren Praktiken das „Ausprobieren“ und unplan­mä­ßige „[F]inden“ sind (RHEINBERGER 2003, 36f.). Die Fokussierung auf das Konkrete begrün­det RHEINBERGER 2003, 37 mit der immer klein­tei­li­ge­ren „Spezialisierung der moder­nen Wissenschaften“, die eine Erforschung ihrer Objekte anhand all­ge­mei­ner Prinzipien unmög­lich macht. Lévi-Strauss‘ Theorie der B. biete einen „Anknüpfungspunkt“ für die Vorstellung der Wissenschaft als ‚wil­den Denkens‘, da sie mythi­sches und wis­sen­schaft­li­ches Denken ein­an­der nicht ent­ge­gen­setze, son­dern ers­te­res eben­falls als Erkenntnisform betrachte (RHEINBERGER 2003, 36 zu LÉVI-STRAUSS 1962, 21). (AG)

      Quellen:
      LÉVI-STRAUSS, Claude: La pen­sée sau­vage. Paris 1962. 
      RHEINBERGER, Hans-Jörg: „Das Wilde im Zentrum der Wissenschaft“. In: Gegenworte 12 (2003), 36–38.
      RHEINBERGER, Hans-Jörg: An Epistemology of the Concrete. Twentieth-Century Histories of Life. Durham, NC 2010. 
    8. Der von der Clusterinitiative „Bricolage! Re-Use, Interpretation, Knowledge in Ancient Cultures” vor­ge­schla­gene Diskurs knüpft an den epis­te­mo­lo­gi­schen Diskurs an, indem er eben­falls eine alter­na­tive Betrachtung von (anti­ker) Wissenschaft im Rückgriff aus LÉVI-STRAUSS‘ B. vor­schlägt. Um zu unter­su­chen, wie antike Kulturen Wissen effek­tiv und krea­tiv ver­wen­den und wie­der­ver­wen­den, gehen UHLMANN/ASPER von fol­gen­der Hypothese aus: “re-use aways draws on prior inter­pre­ta­ti­ons which are the pro­duct of a broad spec­trum of coll­ec­tive memo­ries, his­to­ri­cal hori­zons of expe­ri­ence, (often locally media­ted) prac­ti­cal know-how, and bodies of know­ledge han­ded down in wri­ting” (4). Sie ent­neh­men dem LÉVI-STRAUSS’schen B.-Diskurs nur das Element der Wiederverwendung („re-use“) von bereits vor­han­de­nen Dingen und Wissen sowieso das Moment der krea­ti­ven Improvisation, deren die Wiederverwendung bedarf. Jenseits von LÉVI-STRAUSS prä­gen sie B. neu als „ana­ly­ti­sches tool“; in enger Verbindung mit dem his­to­risch ver­wand­ten, aber nun in sei­ner sozia­len Dimension ver­stan­de­nen Terminus „Kreativität“ bezeich­net B. die auf Kommunikation und Interaktion basie­rende Praxis des „crea­tive re-use“ (6). B. steht dabei ter­mi­no­lo­gisch sowohl in einer Reihe mit Begriffen wie „impro­vi­sa­tion, tin­ke­ring, craf­ting, and crea­ti­vity“, als auch kann es als Oberbegriff die­ser Praktiken des re-use her­hal­ten. Als vier wesent­li­che Merkmale der B. kön­nen gel­ten: „Bricolage is (…) (1) not an indi­vi­dual, but a genui­nely social prac­tice. The bri­coleur is always refer­red to his com­mu­ni­ties as coll­ec­ti­ves of use, in which cer­tain prac­ti­ces of use are estab­lished and others are not rea­li­sed. Bricolage is (2) crea­tive as a pro­blem-sol­ving stra­tegy of re-use from mate­ri­als, things, spaces, know­ledge, infra­struc­tures, and insti­tu­ti­ons, and has a (3) his­to­ri­cal depth due to the use-memory in these com­mu­ni­ties, whose his­to­ri­cal view of them­sel­ves is (4) always lin­ked to com­pe­ti­tive and poten­ti­ally con­flic­ting use- and inter­pre­ta­tion-prac­ti­ces.” (UHLMANN/ASPER, 6). (AG)

      Quellen:
      UHLMANN, Gyburg / ASPER, Markus: Draft Proposal Cluster Initiative (ExStra II): „Bricolage! Re-Use, Interpretation, Knowledge in Ancient Cultures“ 

PDF Zitiervorschlag: Anna-Maria Gasser, „Bricolage“, Version 1.0, 14.04.2023, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/refubium-38607

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Versionsgeschichte
  • Version 1.0 (diese Version) 

Despot / Despotie

ORGANON ter­mi­no­logy tool­box (von gr. ὄργανον: Werkzeug) ist ein Instrument zur Orientierung in der Landschaft inter­dis­zi­pli­när rele­van­ter Begriffe und Theorien. Mit weni­gen Blicken fin­den Sie hier einen Überblick über rele­vante Diskurse, Grundlagentexte und wei­ter­füh­rende Links.

DESPOT / DESPOTIE

(von alt­grie­chisch δεσπότης (des­po­tēs): der­je­nige, der im Haus herrscht)

Version 1.0 (27.04.2022)

Autor*innen: Werner Kogge (WK); Lisa Wilhelmi (LW); Janis Walter (JW)

Zum Wort
Das Wort ‘Despot’ lei­tet sich aus dem Griechischen δεσπότης (des­po­tēs) ab und bezeich­net wört­lich den­je­ni­gen, der im Haus herrscht, den Hausherren. Erst im phi­lo­so­phi­schen Diskurs des 17. Und 18. Jahrhunderts fin­det sich eine sys­te­ma­ti­sche Verwendung des Begriffs Despotie für eine gewalt­same, will­kür­li­che, also kei­nem Recht, son­dern einem Herrscher, dem Despoten, ver­pflich­tete Regierungsform. (JW)

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte


















  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. Im aris­to­te­li­schen Diskurs bezeich­net Despot (δεσπότης/despó­tēs) den­je­ni­gen, der in sei­nem Haus die Herrenherrschaft (des­po­tiké arché) aus­übt. In der Politica stellt Aristoteles diese natur­recht­li­che und damit vor­po­li­ti­sche Form der Herrschaft sechs poli­ti­schen Verfassungsformen gegen­über. „Denn es gibt eine natur­ge­mäße des­po­ti­sche Herrschaft und eine könig­li­che wie auch einen Verfassungsstaat, und diese sind gerecht und zuträg­lich“ (ARISTOTELES 2003, Buch III, 1287b 38–39). Der Begriff erhält eine kri­ti­sche Wendung bei Aristoteles nur in einer Hinsicht: das Auftreten haus­herr­schaft­li­cher Herrschaftsmodi im Bereich des Politischen – bestimmt bei Aristoteles als der Bereich der Verfasstheit von Herrschaft unter Gleichen – erscheint hier gene­rell als ille­gi­time Übertragung der Sphäre des Hausorganisation auf die der Polis. (WK)

      Quellen:
      ARISTOTELES. Politik (Übersetzt von Franz Susemihl). Reinbeck bei Hamburg 2003. 
    2. Der spät­mit­tel­al­ter­li­che Diskurs der Regierungskritik ver­wischt die Trennung der häus­li­chen von der poli­ti­schen Ebene. Despotische Herrschaft wird so im Aristoteles Kommentar von THOMAS VON AQUIN eine von vier mög­li­chen Herrschaftsformen (2015, 64f). Auch der Schüler Thomas‘, PTOLOMEUS DA LUCCA, setzt diese Verschiebung des kate­go­ria­len Oberbegriffs von den poli­ti­schen Machtformen bei Aristoteles, derer die Despotie expli­zit nicht Teil ist, zu Formen der Herrschaft, derer die Despotie eine ist, fort. Bei ihm fin­det sich auch die „Assoziation des Despotischen mit einem Regieren ‚mit har­ter Hand“ (KOGGE und WILHELMI 2019, 324; siehe auch PTOLOMEUS DA LUCCA 1954, Liber II, Caput 8). In sei­ner Papstkritik spricht MARSILIUS VON PADUA dann als ers­ter von einem „des­po­ti­schen Gesetz“ (legis des­po­ciam) (1958, 82) und kri­ti­siert mit die­ser Wendung die „keine Gewalttat scheu­ende Macht der römi­schen Bischöfe“ (ebd. 249). Seinen Abschluss fin­det diese „Transformation der aris­to­te­li­schen Systematik“ (KOGGE und WILHELMI 2019), 326) bei WILHELM VON OCKHAM. Er unter­schei­det drei könig­li­che Herrschaftsformen, Königtum, Despotie und Tyrannis. „Wenn er […] über Menschen zu herr­schen beginnt, die das nicht wol­len wird er zum Tyrannen. Wenn er um sein eige­nes Wohl wil­len über Menschen herrscht, die das wol­len, wird er zum Despoten im eigent­li­chen Sinne des Worts.“ (1992, 157 f.) (JW)

      Quellen:
      KOGGE, Werner und WILHELMI, Lisa. Despot und (ori­en­ta­li­sche) Despotie – Brüche im Konzept von Aristoteles bis Montesqiue. In: Saeculum 69/II (2019), 305–341.
      MARSILIUS VON PADUA. Der Verteidiger des Friedens 1 (Übersetzt von Walter Kunzmann und Horst Kusch). Berlin 1958. 
      PTOLOMEUS DA LUCCA. Continuatio S. Thomae De regno, Textum Taurini. In: Alarcón, Enrique (Hrsg.). Corpus Thomasticum. 1954. http://www.corpusthomisticum.org/xrp.html (Besucht am 1. Juli 2021). 
      THOMAS VON AQUIN. Kommentar zur Politik des Aristoteles. Sententia libri Politicorum, 1 (Übersetzung von Anselm Spindler). Freiburg 2015. 
      WILHELM VON OCKHAM. Dialogus: Auszüge zur poli­ti­schen Theorie. Darmstadt 1992. 
    3. Auch der Diskurs um patri­ar­cha­li­sches Regieren in der früh­neu­zeit­li­chen poli­ti­schen Philosophie geht auf die Politica von Aristoteles zurück. Zum ers­ten Mal wird dabei auf eine fran­zö­si­sche und nicht mehr auf eine latei­ni­sche Übersetzung zurück­ge­grif­fen. Dabei wird das Adjektiv des­po­ti­kos mit sei­gneu­riale über­setzt und berei­tet so eine ver­än­derte Begriffsverwendung vor. Jean BODIN fasst dann die „des­po­ti­sche Monokratie“ (Monarchie sei­gneu­riale) (1576, Livre 2, Chapitre 2) als his­to­ri­sche Vorstufe der legi­ti­men Monarchie (Monarchie royale) und nicht mehr als der Ebene nach von ihr getrennte. Diese begriff­li­che Evolution setzt sich durch eine Übersetzung ins Englische fort. Thomas HOBBES führt den Begriff des­po­ti­cal in die Debatte ein und bezeich­net damit eine Form der Unterwerfung, die gegen eine Invasion von außen durch eine aus­rei­chende Zahl an Untertanen geschützt ist (1889, Chapter 22). In sei­ner Rezeption von Thomas Hobbes ist es Robert FILMER, der bei der Systematisierung ver­schie­de­ner Monarchien, der pater­nal mon­ar­chy, der elec­tive mon­ar­chy und der des­po­tick and abso­lute tyranny, die Begriffe des­po­tisch und Tyrannei in einen engen Zusammenhang bringt; ähn­lich John LOCKE, der des­po­ti­cal power als die unum­schränkte Macht eines Menschen über einen ande­ren defi­niert (1824, Chapter 15 § 172). (LW/JW)

      Quellen:
      BODIN, Jean. Les Six Livres de la République, Paris 1576. 
      FILMER, Robert. Patriarcha, or, The Natural Power of Kings, London 1685. 
      HOBBES, Thomas. The Elements of Law, Natural and Police, London 1889. 
      LOCKE, John. The Works of John Locke in Nine Volumes, 2, London 1824. 
    4. Durch die dis­kurs­be­stim­mende Begriffsprägung durch MONTESQUIEU erhält der Begriff seine eigen­stän­dige Bedeutung, die er noch heute hat. MONTESQUIEU bezeich­net in Vom Geist der Gesetze mit dem Begriff der des­po­ti­schen Regierungsform (gou­ver­ne­ment des­po­tique) den sys­te­ma­ti­schen Widerpart mode­ra­ter Regierungsformen. Despotie bezeich­net dem­nach die Gewaltherrschaft einer abso­lu­ten Monarchie (siehe 1965, 11. Buch, 6. Kapitel). (JW)

      Quellen:
      MONTESQUIEU, Charles de Secondat. Vom Geist der Gesetze. Stuttgart 1965. 
  2. Literatur zum Begriff
  3. KOEBNER, Richard. Despot and Despotism: Vicissitudes of a Political Term, In: Journal of the Warburg and Courtald Institutes, 14 (1951), 275–302.
    KOGGE, Werner und WILHELMI, Lisa. Despot und (ori­en­ta­li­sche) Despotie – Brüche im Konzept von Aristoteles bis Montesqiue. In: Saeculum 69/II (2019), 305–341.
  4. Weiterführende Links
  5. WIKTIONARY. „Despot“. In: Wiktionary, das freie Wörterbuch. https://de.wiktionary.org/wiki/Despot (Besucht am 1. Juli 2021). 

PDF Zitiervorschlag: Werner Kogge, Lisa Wilhelmi, Janis Walter, „Despot/Despotie“, Version 1.0, 27.04.2022, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/refubium-34626.2

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Begriff

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BEGRIFF

(von alt­hoch­deutsch begrī­fan, mit­tel­hoch­deutsch begrī­fen: ergrei­fen, umgreifen)

Version 1.0 (22.04.2022)

Autor: Janis Walter

Zum Wort
Das Wort ‘Begriff’ ent­stand aus dem Verb bigrī­fan (alt­hoch­deutsch) bzw. begrī­fen (mit­tel­hoch­deutsch). Ursprünglich im Sinn von ergrei­fen oder umgrei­fen ver­wen­det, dehnt die Nutzung des Wortes zur Übersetzung des latei­ni­schen com­pre­hen­dere die Bedeutung auf die heu­tige Verwendung von begrei­fen aus. Als Substantiv, das wesent­li­che Merkmale eines Gegenstands oder Sachverhalts in einer gedank­li­chen oder seman­ti­schen Einheit resp. einem Konzept zusam­men­fasst, erlangt der Begriff wesent­lich im Zuge der Aufklärung im 18. Jahrhundert Verbreitung. 

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte












  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. Im Diskurs der geschichts­wis­sen­schaft­li­chen Begriffsgeschichte wer­den Begriffe als empi­ri­sche Gegebenheiten oder soziale Tatsachen zum Gegenstand der Forschung. Sie sind Erkenntnis- und Kommunikationsmittel his­to­ri­scher Akteure und in die­sem Sinne Indikatoren für his­to­ri­sche Gegebenheiten. In der Geschichte „bün­delt“ der Begriff „die Vielfalt geschicht­li­cher Erfahrung und eine Fülle von Sachbezügen in einen Zusammenhang, der als sol­cher nur durch den Begriff gege­ben ist und wirk­lich erfah­ren wird“ (KOSELLECK, 86). 

      Quellen:
      KOSELLECK, Reinhart. Richtlinien für das Lexikon poli­tisch-sozia­ler Begriffe der Neuzeit. Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), 81–99.
    2. Der Diskurs der phi­lo­so­phi­schen Begriffsanalyse ver­steht unter Begriffen kon­sti­tu­ie­rende, gege­bene logi­sche Einheiten der Wirklichkeit. Als sol­che kön­nen sie erkannt wer­den und ermög­li­chen so ein Erkennen der Wirklichkeit. Paradigmatisch kommt das in KANTs Kritik der rei­nen Vernunft zum Ausdruck: „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gege­ben, und ohne Verstand kei­ner gedacht wer­den. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (KANT, A51/B 75 / 98). Die phi­lo­so­phi­sche Begriffsanalyse wen­det sich den Begriffen zum Zwecke einer Selbstverständigung des Denkens über die Begriffe, in denen es sich voll­zieht, zu. 

      Quellen:
      KANT, Immanuel. Kritik der rei­nen Vernunft. 1781. 
    3. In der Wittgensteinschen Begriffsforschung wer­den Begriffe als Ausdruck von sprach­lich gefass­ten oder fass­ba­ren Praktiken in der Welt ver­stan­den. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (WITTGENSTEIN, §43). Ausgangspunkt die­ser Begriffsforschung sind des­halb nicht Definitionen, son­dern Anwendungsfälle. Begriffe sind in die­sem Sinne der sprach­li­che Niederschlag von Erfahrung und Begriffsforschung ist dem­nach die Explikation die­ser begriff­lich struk­tu­rier­ten Erfahrung. 

      Quellen:
      WITTGENSTEIN, Ludwig. Philosophische Untersuchungen. 1953. 
    4. Die his­to­ri­sche Semantik ver­steht unter Begriffen den sprach­li­chen Ausdruck von „Wirklichkeitsbilder[n]“ (BUSSE, 94). Begriffe und Begriffsverwendung wer­den so his­to­ri­siert. Ihr Interesse gilt daher dem Erschließen von „Geschichtlichkeit im Medium von Sprache und Begriffen“ (KOLLMEIER). Im Zentrum steht so die Betrachtung von all­tags­sprach­li­cher Begriffsverwendung. Zudem wei­tet die his­to­ri­sche Semantik das Untersuchungsfeld auf höher­stu­fige Einheiten wie Texte und Diskurse aus. 

      Quellen:
      BUSSE, Dietrich. Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart 1987. 
      KOLLMEIER, Kathrin. Begriffsgeschichte und Historische Semantik. Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012. DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.257.v2
  2. Literatur zum Begriff
  3. DEMMERLING, Christoph (Hrsg.). „Schwerpunkt: Philosophie des Begriffs: Neuere Perspektiven“. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 61/5–6 (2013), 713–809.
    KOGGE, Werner. „Begriffsforschung im inter­dis­zi­pli­nä­ren Kontext. Neuansätze einer Methode (1. Teil)“. Archiv für Begriffsgeschichte 63/1 (2021), 105–134.
  4. Weiterführende Links
  5. WIKTIONARY. „Begriff“. In: Wiktionary – Das freie Wörterbuch. https://de.wiktionary.org/wiki/Begriff (Besucht am 18. April 2022). 

PDF Zitiervorschlag: Janis Walter, „Begriff“, Version 1.0, 22.04.2022, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/refubium-34625

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Steuer

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STEUER

(von alt­hoch­deutsch sti­ura: Stütze)

Version 1.0 (16.11.2021)

Autor/in: Kristin Kleber; Janis Walter

Zum Wort
Das Wort lei­tet sich aus dem alt­hoch­deut­schen sti­ura bzw. mit­tel­hoch­deut­schen sti­ure ab, das ursprüng­lich eine Stütze oder einen Pfahl spä­ter dann auch eine Unterstützung bezeich­net. Dem ähn­lich ist die Rückführung auf das nie­der- und nie­der­mit­tel­deut­sche stur oder sture, womit die zum Staken und Lenken eines Schiffes ver­wen­dete Stange bzw. die Stütze oder der Pfahl und spä­ter direkt das Steuerruder bezeich­net wurde.
Das im eng­li­schen Sprachraum ver­wen­dete tax lässt sich auf das latei­ni­schen taxare, (ab)schätzen oder bewer­ten, zurückführen.[JW]

Quellen:
WIKIPEDIA Autor:innen. “Steuer”. In: Wikipedia, — Die freie Enzyklopädie, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Steuer&oldid=215525503 (Besucht am 12. Oktober 2021). 
WIKTIONARY. „Steuer“. In: Wiktionary – Das freie Wörterbuch. https://de.wiktionary.org/wiki/Steuer (Besucht am 12. Oktober 2021). 

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte







  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. Im juri­disch-öko­no­mi­schen Diskurs wer­den unter dem Begriff Steuern alle finan­zi­elle Leistung ange­se­hen, die ein Gemeinwesen von sei­nen Steuerpflichtigen zu sei­ner Finanzierung erhebt, ohne dafür eine direkte Gegenleistung anzu­bie­ten. In §3 (1) der Abgabenordnung heißt es in die­sem Sinne: „Steuern sind Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine beson­dere Leistung dar­stel­len und von einem öffent­lich-recht­li­chen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen […] auf­er­legt wer­den“. Im moder­nen Steuerrecht und auch in der juris­ti­schen Diskussion gel­ten Natural- oder andere nicht­geld­li­che Leistungen dem fol­gend expli­zit nicht als Steuern (siehe FEHRENBACHER 2017, 34).[JW]

      Quellen:
      Abgabenordnung der Bundesrepublik Deutschland. https://www.gesetze-im-internet.de/ao_1977/__3.html (Besucht am 12. Oktober 2021).
      FEHRENBACHER, Oliver. Steuerrecht. Baden-Baden 2017 
    2. Die Engführung des Steuerbegriffs wird im geschichts­wis­sen­schaft­li­chen oder sozio­lo­gi­schen Diskurs in Frage gestellt, wes­halb mit dem Begriff Steuern neben finan­zi­el­len Leistungen auch Dienstpflichten und Abgaben in Naturalien bezeich­net wer­den. So iden­ti­fi­zierte Moran (2005) die Auffassung, dass Steuern immer eine Geldleistung dar­stel­len, als eines der wei­test ver­brei­te­ten Missverständnisse. Sie betont, dass his­to­risch Steuern oft in Form von Gütern oder auch in Form von Arbeitsleistung begli­chen wur­den und sieht den ver­pflich­ten­den Militärdienst in moder­nen Staaten als Steuerleistung an. Wenn so unter dem Begriff mehr gefasst wird als die bloße Verpflichtung zur Abgabe einer Geldleistung, wird der Begriff häu­fig durch Suffixe prä­zi­siert („Steuerpolitik“, „Steuerstaat“ usw.) und lässt auch deut­li­cher die darin ent­hal­tene Steuerungsfunktion erken­nen (siehe HUHNHOLZ). [KK]

      Quellen:
      HUHNHOLZ, Sebastian. Steuerpolitik. In: Voigt R. (Hrsg.) Handbuch Staat. Wiesbaden 2018. https://doi.org/10.1007/978–3‑658–20744-1_110
      MORAN, Beverly I. (2005), „Taxation“. In: Tushnet, Mark & Cane, Pieter (eds.), The Oxford Handbook of Legal Studies. https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780199248179.013.0018 (abge­ru­fen im September 2020). 
  2. Literatur zum Begriff
  3. FEHRENBACHER, Oliver. Steuerrecht. Baden-Baden 2017 
    HUHNHOLZ, Sebastian. Steuerpolitik. In: Voigt R. (Hrsg.) Handbuch Staat. Wiesbaden 2018. https://doi.org/10.1007/978–3‑658–20744-1_110
  4. Weiterführende Links
  5. KAGAN, Julia. „Taxation“. In: Investopedia, https://www.investopedia.com/terms/t/taxation.asp (Besucht am 12. Oktober 2021).

    WIKIPEDIA Autor:innen. “Steuer”. In: Wikipedia, — Die freie Enzyklopädie, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Steuer&oldid=215525503 (Besucht am 12. Oktober 2021).

    WIKTIONARY. „Steuer“. In: Wiktionary – Das freie Wörterbuch. https://de.wiktionary.org/wiki/Steuer (Besucht am 12. Oktober 2021). 

PDF Zitiervorschlag: Kristin Kleber, „Steuer“, Version 1.0, 16.11.2021, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/refubium-32602

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Staat

ORGANON ter­mi­no­logy tool­box (von gr. ὄργανον: Werkzeug) ist ein Instrument zur Orientierung in der Landschaft inter­dis­zi­pli­när rele­van­ter Begriffe und Theorien. Mit weni­gen Blicken fin­den Sie hier einen Überblick über rele­vante Diskurse, Grundlagentexte und wei­ter­füh­rende Links.

STAAT

(von lat. sta­tus: Stand, Zustand; ital. stato, franz. état (estat), engl. state)

Version 1.0 (08.06.2021)

Autor: Werner Kogge

Zum Wort
Das latei­ni­sche Wort sta­tus mit der Bedeutung Zustand, Lage, Verfasstheit ver­langte gram­ma­ti­ka­lisch ein Genitivattribut: sta­tus rei publi­cae; sta­tus civi­ta­tis – ‘Zu-Stand des Gemeinwesens’. Bereits in der Antike konnte gele­gent­lich das Attribut weg­fal­len und mit die­ser sprach­li­chen Ellipse ein poli­ti­sches Gemeinwesen direkt adres­siert wer­den. (KÖSTERMANN 1937; SUERBAUM 1961) Als eine Verwendung in theo­re­ti­scher Absicht lässt sich diese sprach­li­che Verschiebung aber erst im 16. Jahrhundert nach­wei­sen: Mit dem Wegfall des Attributs wurde es mög­lich, das poli­ti­sche Gemeinwesen nicht mehr als Zustand von etwas, son­dern als eigene Ordnungsgestalt zu deno­tie­ren. Die Verwendung von sta­tus / stato für ein poli­ti­sches Gemeinwesen spe­zi­fi­scher Art wird zumeist Machiavelli oder den anschlie­ßen­den Diskursen zuge­schrie­ben. (BOLDT u.a. 1990, 9) Das fran­zö­si­sche ‘état’ geht auf die Französisierung von sta­tus zu ‘estat’ im 13. Jahrhundert zurück. [WK]

Quellen:
KÖSTERMANN, Erich. „’Status’ als poli­ti­scher Terminus in der Antike“. Rheinisches Museum Für Philologie 86(3) (1937), 225–240. www.jstor.org/stable/41243415 (besucht am 16.10.2020).
SUERBAUM, Werner. Vom anti­ken zum früh­mit­tel­al­ter­li­chen Staatsbegriff. Über Verwendung und Bedeutung von res publica, regnum, impe­rium und sta­tus von Cicero bis Jordanis. Münster 1961. 
BOLDT, Hans, Werner Conze, Görg Haverkarte, Diethelm Klippel u. Reinhart Koselleck. „Staat und Souveränität“. In: Brunner, Otto, Conze, Werner und Koselleck, Reinhart (Hrsg.). Geschichtliche Grundbegriffe Band 6. Stuttgart 1990, 1–154.

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte








  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. Ein struk­tur­theo­re­ti­scher Staatsbegriff ent­stand im 16. Jahrhundert im Diskurs der neu­zeit­li­chen poli­ti­schen Theorie als das Wort stato zu einem Nomen wurde, das ohne Attribut ste­hen und damit eine selb­stän­dige Sache bezeich­nen konnte. Das poli­ti­sche Gemeinwesen wurde nicht mehr nur als Zusammenschluss von Einzelnen oder Haushalten auf­ge­fasst, son­dern als ein Ordnungsgefüge eige­ner Art, ein quasi-natür­li­cher Strukturzusammenhang, mit dem zu rech­nen ist, der unter­sucht, ver­stan­den, aber auch tech­nisch mani­pu­liert wer­den kann. (MACHIAVELLI 2007, I 9 und 15) In die­sem Diskurs wurde der Staat als Maschine und Apparat (JUSTI zitiert nach WEINACHT 1968, 200) und als eigen­stän­di­ger Körper und Organismus (BOLDT u.a. 1990, 28), kon­zep­tua­li­siert. Als geglie­derte Ganzheit bedeu­tete er auch die Ständeordnung (wobei es zu kom­ple­xen ety­mo­lo­gi­schen Überschneidungen von stareste­hen zu Zustand/ Stand kam). (WEINACHT 1968, 174) In Bezug auf den Hof- und den Fürstenstaat bezeich­nete Staat ins­be­son­dere das Finanzwesen, aber auch das Personal, die Ländereien, die Hofhaltung, die Hofordnung und alles, was von ihr abhän­gig war. (BRUNNER, CONZE und KOSELLECK 1990, 12) In der Folge wurde der Staatsbegriff eng an den Verwaltungsapparat, das Beamtentum und die Bürokratie gekop­pelt. Staat wurde zu einer juris­ti­schen Person, die geschä­digt, der genutzt und der gedient (Staatsdiener) wer­den kann. Als ent­per­so­na­li­sierte und selb­stän­dige Struktursphäre “dau­er­haf­ter Institutionen” (HWPh 39.455) konnte Staat zu einem Gegenstand auch wis­sen­schaft­li­cher Betrachtung wer­den, so dass der Begriff die Möglichkeit einer Staatslehre (JELLINEK 1900) und Staatssoziologie begrün­dete. (WEBER 1956) [WK]

      Quellen:
      BOLDT, Hans, Werner Conze, Görg Haverkarte, Diethelm Klippel u. Reinhart Koselleck. „Staat und Souveränität“. In: Brunner, Otto, Conze, Werner und Koselleck, Reinhart (Hrsg.). Geschichtliche Grundbegriffe Band 6. Stuttgart 1990, 1–154.
      MACHIAVELLI, Niccolo. Il Principe/Der Fürst. Stuttgart 2007. 
      JUSTI, Johann Heinrich Gottlob: Die Chimäre des Gleichgewichts von Europa, Altona 1758, S.47f (zitiert nach Weinacht 1968, S. 200). 
      WEINACHT, Paul-Ludwig. Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jh. Berlin 1968. 
      JELLINEK, Georg. Allgemeine Staatslehre. Berlin 1900. doi: https://doi.org/10.1007/978–3‑642–50936‑0
      WEBER, Max. Staatssoziologie. Berlin 1956. 
    2. In einem herr­schafts­theo­re­ti­schen Diskurs der Neuzeit ver­knüpft ein macht­po­li­ti­scher Staatsbegriff das Konzept mit dem Thema der Zentrierung von Macht (Absolutismus), der Staatsraison (Ragione di Stato), der Souveränität und des Gewaltmonopols.(BOLDT u.a. 12ff.) Staat bedeu­tet in die­ser Diskursvariante das Medium und das Instrument der Herrschaftsausübung gemäß der Grundfrage: Wie kann Herrschen gelin­gen? Von Machiavelli über Bodin und Hobbes bis hin zu Nietzsche und Carl Schmitt wurde der Staatsbegriff durch diese Rahmung geprägt. (BOLDT u.a. 1990, 92; HWPH 39.452 ff.) In der für moder­nes Staatsrechtdenken über­aus wirk­mäch­ti­gen Begriffsanalyse Jellineks bil­det die Staatsgewalt eines der drei kon­sti­tu­ti­ven Elemente (neben Territorium und Staatsvolk; Drei-Elemente-Lehre) (JELLINKEK 1990, 394ff.); ebenso zen­tral, auch das Kriterium der Territorialität affi­zie­rend, in Max Webers wirk­mäch­ti­ger Staatsdefinition: “Staat ist die­je­nige mensch­li­che Gemeinschaft, wel­che inner­halb eines bestimm­ten Gebietes – dies: das „Gebiet“, gehört zum Merkmal – das Monopol legi­ti­mer phy­si­scher Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) bean­sprucht.” (WEBER 2010, 89) Die Kopplung des Staatsbegriffs an das Thema der Zentrierung und Monopolisierung von Herrschaft und Gewalt bedingt einen epo­chen­be­zo­ge­nen Staatsbegriff, in dem der “Ordnungsbegriff Staat” (SCHMITT 1958, 378) sich aus­schließ­lich auf eine Entwicklung der abend­län­di­schen Geschichte bezie­hen lässt, die nach Anfängen im 16. Jahrhundert ins­be­son­dere seit der fran­zö­si­schen Revolution von 1789 ihre eigent­li­che Form annahm Der Staatsbegriff bezeich­net in Bezug auf diese Epoche eine nach außen poli­tisch und ter­ri­to­rial scharf abge­grenzte und nach innen durch Staatsgewalt homo­ge­ni­sierte poli­ti­sche Entität. In die­sem Kontext steht auch die wis­sen­schaft­li­che Auseinandersetzung um der Berechtigung einer Applikation des Staatsbegriffs auf das Mittelalter bzw. um die Konturierung von Staat als ein Phänomen, das die mit­tel­al­ter­li­che Gesellschaftsordnung ablöste (LexMA 1995, 2152; HWdPh 39.450ff.; REYNOLDS 1997 und 2003; DAVIS 2003) In die­ser Debatte ste­hen sich Vertreter des macht­po­li­ti­schen, epo­chen­be­zo­ge­nen Staatsbegriffs und Vertreter des struk­tur­theo­re­ti­schen Staatsbegriffs gegen­über. [WK]

      Quellen:
      BOLDT, Hans, Werner Conze, Görg Haverkarte, Diethelm Klippel u. Reinhart Koselleck. „Staat und Souveränität“. In: Brunner, Otto, Conze, Werner und Koselleck, Reinhart (Hrsg.). Geschichtliche Grundbegriffe Band 6. Stuttgart 1990, 1–154.
      DAVIS, Rees. The Medieval State: The Tyranny of a Concept? Journal of Historical Sociology, 2 (2003), 280–300.
      LexMA. Eintrag „Staat“. In: Lexikon des Mittelalters (Online), Bd. 7. München 1995, 2151–2158.
      HWdPh „Staat“. In: Ritter, Joachim (Hrsg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10. Basel 1998, 39.450f.
      JELLINEK, Georg. Allgemeine Staatslehre. Berlin 1900. doi: https://doi.org/10.1007/978–3‑642–50936‑0
      REYNOLDS, Susan. The Historiography of the Medieval State. In: Bentley, Michael (Hrsg.). Companion to Historiography. London/New York 1997, 117–138.
      REYNOLDS, Susan. There were States in Medieval Europe. A Response to Rees Davies. Journal of Historical Sociology, 4 (2003), 550–555.
      SCHMITT, Carl. Staat als kon­kre­ter, an eine geschicht­li­che Epoche gebun­de­ner Begriff. In: Ders.. Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre. Berlin 1958 (1941). 375–384.
      WEBER, Max. Politik als Beruf. Berlin 2010. 
    3. In einem aris­to­te­li­schen und christ­lich-natur­recht­li­chen Diskurs bin­det ein gemein­wohl­ori­en­tier­ter Staatsbegriff Staat an die ‘gemein­same Sache’ (res publica), an Gemeinwohl (bonum com­mune), Schutz und das aris­to­te­li­sche Strebensziel der eudai­mo­nia (‘Glückseligkeit’) – seit dem 16. Jahrhundert auch in expli­zi­ter Abgrenzung zum herr­schafts­be­zo­ge­nen Staatsbegriff und in anti-machia­vel­lis­ti­scher Absicht. Aristoteles hatte nur sol­che poli­ti­schen Gemeinschaften als Staaten bezeich­net, denen, über ein zweck­ori­en­tier­tes Bündnis (z.B. Schutzbündnisse, Handelsbündnisse) hin­aus, das Strebensziel gemein­sa­mer Verwirklichung von “gutem Leben” inhä­rent ist. (ARISTOTELES, 1280 a,b) Im Mittelalter domi­niert eine Verwendung im Kontext von ‘gutem Regieren’, der “Regentenpflicht ‘bonum sta­tum civi­ta­tis et epis­co­pa­tus regere guber­nare et sal­vare’ ”. (WEINACHT 1968, 55) Konzepte der Sorge (cura), der Wohlfahrt, des public good und des bien du peu­ple prä­gen sich dann im Europa des 17. und 18. Jahrhundert dis­kurs­be­stim­mend aus (so bei Keckermann (dazu: WEBER 1992, 110), Pufendorf, Leibniz, Locke, Wolff und im Eintrag ‘Etat (Droit Polit)’ der Encyclopédie (JAUCOURT 1756). (KOGGE 2021) Im Deutschen geht dem Staatsbegriff der wohl­fahrts­ori­en­tierte Begriff des “gemei­nen Wesens” (für res publica) vor­aus, des­sen Konnotate nur all­mäh­lich, und unter Widerständen, im 18. Jahrhundert auf den Staatsbegriff über­gin­gen, voll­endet dann bei dem Kameralisten Johann H.G. v. Justi, exem­pli­fi­ziert im Titel sei­nes Werkes Die Grundfeste zu Macht und Glückseligkeit der Staaten. (JUSTI 1760) In die­ser Tradition wurde Staat auch im 19. Jahrhundert auf­ge­fasst als Vergemeinschaftung, deren Grundsatz nicht nur “gegen­sei­tige Beschützung”, son­dern auch die Ausbildung von “Sittlichkeit” (im Sinne von Ethos) ist. (KRÜNITZ 1835) Dieser zen­trale Bedeutungsaspekt drückt sich nicht nur in der christ­li­chen und sozia­lis­ti­schen Staatslehre des spä­ten 19. Jahrhunderts (STEIN 1850), son­dern noch im 20. Jahrhundert im Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts zu Sealand aus, das die­ser künst­li­chen, mini­ma­len poli­ti­schen Konstruktion die Anerkennung als Staat u.a. mit dem Hinweis ver­wei­gert, dass für den Begriff Staat nicht nur ein “Zusammenschluß zwecks Förderung gemein­sa­mer Hobbys und Interessen […], son­dern eine im wesent­li­chen stän­dige Form des Zusammenlebens i. S. einer Schicksalsgemeinschaft”, ver­bun­den mit der Absicht, “mit­ein­an­der zu leben und damit alle Bereiche des Lebens gemein­sam zu bewäl­ti­gen” – eine Lebensform, die in die­sem Fall nicht gege­ben sei. (VERWALTUNGSGERICHT KÖLN, 03.05.1978, Az. 9 K 2565/77)

      Quellen:
      ARISTOTELES. Politik. N. d. Übers. v. Franz Susemihl m. Einl., Bibl. u. zus. Anm. hrsg. v. Wolfgang Kullmann, Reinbek bei Hamburg 1994. 
      JAUCOURT, Chevalier Louis de. „Etat (Droit polit.)“ In: Édition Numérique Collaborative et Critique de l’Encyclopédie. Band VI. Paris 1756. S. 19 ff. http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/article/v6-39–4/ (besucht am 24.05.2021)
      JUSTI, Johann Heinrich Gottlob. Die Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit der Staaten. Königsberg/Leipzig 1760. https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10688045‑5
      KRÜNITZ, Johann Georg. „Staat“. In: KRÜNITZ, Johann Georg. Oeconomische Encyclopädie oder all­ge­mei­nes System der Staats‑, Stadt‑, Haus- u. Landwirthschaft. Bd. 162. Berlin 1835, S. 351–451. http://www.kruenitz1.uni-trier.de (Besucht am 24.05.2021).
      KOGGE, Werner. ‘Die Bedeutung des Begriffs ‘Staat’. Eine kri­te­rio­lo­gisch-begriffs­ge­schicht­li­che Synopse’. In: Zur Begriffsgeschichte des Begriffs ‘Staat’ und sei­ner Verwendung in der Altorientalistik – ein Begriffsbericht (gemein­sam mit Eva Cancik, Jörg Klinger, Aron Dornauer, Tomoki Kitazumi und Lisa Wilhelmi). Preprint Nr. 3 der DFG-Kollegforschungsgruppe 2615: “Zwischen Demokratie und Despotismus; Governance-Strategien und Partizipationsformen im Alten Orient”. https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/rod/Publikationen/Pre-Prints/index.html (2021)
      STEIN, Lorenz von. Geschichte der sozia­len Bewegungen in Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage. Leipzig 1850. 
      VERWALTUNGSGERICHT KÖLN. 03.05.1978, Az. 9 K 2565/77. In: Deutsches Verwaltungsblatt (1978), S. 510 ff. 
      WEINACHT, Paul-Ludwig. Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jh. Berlin 1968. 
      WEBER, Wolfgang. Prudentia gube­ma­to­ria: Studien zur Herrschaftslehre in der deut­schen poli­ti­schen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992. 
  2. Literatur zum Begriff
  3. BOLDT, Hans, Werner Conze, Görg Haverkarte, Diethelm Klippel u. Reinhart Koselleck. „Staat und Souveränität“. In: Brunner, Otto, Conze, Werner und Koselleck, Reinhart (Hrsg.). Geschichtliche Grundbegriffe Band 6. Stuttgart 1990, 1–154.
    LexMA. Eintrag „Staat“. In: Lexikon des Mittelalters (Online), Bd. 7. München 1995, 2151–2158.
    HWdPh „Staat“. In: Ritter, Joachim (Hrsg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10. Basel 1998, 39.450f.
    KOGGE, Werner. ‘Die Bedeutung des Begriffs ‘Staat’. Eine kri­te­rio­lo­gisch-begriffs­ge­schicht­li­che Synopse’. In: Zur Begriffsgeschichte des Begriffs ‘Staat’ und sei­ner Verwendung in der Altorientalistik – ein Begriffsbericht (gemein­sam mit Eva Cancik, Jörg Klinger, Aron Dornauer, Tomoki Kitazumi und Lisa Wilhelmi). Preprint Nr. 3 der DFG-Kollegforschungsgruppe 2615: “Zwischen Demokratie und Despotismus; Governance-Strategien und Partizipationsformen im Alten Orient”. https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/rod/Publikationen/ (2021)
  4. Weiterführende Links
  5. WIKTIONARY. „Staat“. In: Wiktionary, das freie Wörterbuch. https://de.wiktionary.org/w/index.php?title=Staat&oldid=8351464 (Besucht am 24.05.2021).

PDF Zitiervorschlag: Werner Kogge, „Staat“, Version 1.0, 08.06.2021, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/refubium-30716

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Governance

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GOVERNANCE

Version 1.0 (18.05.2021)

Autor: Werner Kogge

Zum Wort
Das seit dem 13. Jahrhundert belegte governaunce/ gover­nance schreibt die gesamte Bandbreite des latei­ni­schen Verbs guber­nare und des grie­chi­schen Verbs κυβερνάω (kybernáo) fort. Von der Grundbedeutung des Lenkens, Steuerns und Führens eines Schiffs wur­den schon in der Antike poli­ti­sche (Regierungsführung), öko­no­mi­sche (Haushaltsführung) und mora­li­sche (Lebensführung) abge­lei­tet, ebenso konnte der Begriff in Kontexten der Medizin (Diät) zur Anwendung kom­men. [WK]

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte









  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. In der eng­li­schen und fran­zö­si­schen Bildungssprache vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert wird unter governaunce/governance Regierung im Sinne von Regierungsaus­übung ver­stan­den. Governaunce/ gover­nance bezeich­net dabei zum einen die Instanz, die de facto die Macht in Händen hält, zum ande­ren die Art und Weise der Ausübung, so dass von good und bad gover­nance die Rede sein kann. (DUNHAM/ WOOD, 744, 752; ROTULI, 464) Die Ausübung der Regierung ist in die­sem Diskurs stets mit der all­ge­mei­nen Vorstellung von Leiten und Steuern asso­zi­iert: der Begriff umfasst auch die christ­li­che Lebensführung, die Führung des Haushalts, die Führung von Schiffen und mili­tä­ri­schen Einheiten, die Selbstbeherrschung, die medi­zi­ni­sche Diät und mecha­ni­sche Steuerungen. [WK]

      Quellen:
      DUNHAM William Huse, Jr., WOOD Charles T.. The Right to Rule in England: Depositions and the Kingdom’s Authority, 1327–1485. The American Historical Review, Volume 81, Issue 4, October 1976, Pages 738–761, https://doi.org/10.1086/ahr/81.4.738
      DUPONT-FERRIER, Gustave. Le mot « Gouverner » et ses déri­vés dans les insti­tu­ti­ons fran­çai­ses du Moyen Âge. In: Journal des savants, Mars-avril 1938. pp. 49–60; https://doi.org/10.3406/jds.1938.2974
      EEBO. “gover­nance”. In: Early English Books, online. https://quod.lib.umich.edu/… (Besucht am 16. Mai 2021). 
      MED. “gover­naunce”. In: Middle English Dictionary, online. https://quod.lib.umich.edu/… (Besucht am 12. Mai 2021). 
      ROTULI PARLIAMENTORUM; UT Et Petitiones, Et Placita In Parliamento. 5: Ab Anno Decimo Octavo R. Henrici Sexti ad Finem eius­dem Regni. London 1769 ff. [1461]
    2. Im wirt­schafts­wis­sen­schaft­li­chen Diskurs der Institutionenökonomie bezieht sich Governance auf Strukturen, Institutionen und Organisationen, die ein­ge­rich­tet wer­den, um koor­di­niert und öko­no­misch erfolg­reich zu agie­ren. Hintergrund die­ser Verwendung ist die im Liberalismus geprägte Überzeugung, dass das Regulierungssystem in der Ökonomie allein das von Markt und Preis ist. In Absetzung von die­ser Doktrin führt Ronald Coase 1937 das Konzept der Firma als koor­di­nier­tes System ein (ohne den Begriff Governance zu ver­wen­den). (COASE) Dem System des Marktes wird die Organisation der Firma als ein zwei­tes Regulierungssystem an die Seite gestellt. Als Oliver Williamson seit den 1990er Jahren Coases Einsatz zu einer Theorie des Corporate Governance aus­baut, ent­steht ein Diskurs, der Governance gene­rell in Zusammenstellungen wie “insti­tu­ti­ons of gover­nance (mar­kets, hybris, hier­ar­chies, bure­aus)”, “gover­nance struc­tures” und “mecha­nisms of gover­nance” (WILLIAMSON, 5) ver­wen­det. Governance bedeu­tet hier: Regulierung durch ein System. [WK]

      Quellen:
      COASE, Ronald. “The Nature of the Firm”. In: Economica. 16.4 (1937), 386–405
      WILLIAMSON, Oliver E. The Mechanisms of Governance. New York 1996. 
    3. Im Diskurs der Politikwissenschaften wird Governance seit den 1990er Jahren in zwei unter­schied­li­chen Bedeutungen ver­wen­det: Zum einen bezeich­net hier Governance eine dem klas­si­schen Bild von staat­li­cher Machtausübung (govern­ment) ent­ge­gen­ge­setzte Form des Regierens. In die­sem Sinne wird Governance “zur Bezeichnung der Gesamtheit aller in einem Gemeinwesen bestehen­den und mit­ein­an­der ver­schränk­ten Formen der kol­lek­ti­ven Regelung gesell­schaft­li­cher Sachverhalte benutzt” (MAYNTZ 2010, 38). Der poli­tik­wis­sen­schaft­li­che Diskurs ver­wen­det Governance aber zugleich auch unspe­zi­fisch “als Oberbegriff aller Formen sozia­ler Handlungskoordination”: “Governance umfasst die Gesamtheit der zahl­rei­chen Wege, auf denen Individuen sowie öffent­li­che und pri­vate Institutionen ihre gemein­sa­men Angelegenheiten regeln. […] Der Begriff umfasst sowohl for­melle Institutionen und mit Durchsetzungsmacht ver­se­hene Herrschaftssysteme als auch infor­melle Regelungen” (BENZ 2010, 17). Die Parallelität von Oberbegriff und auf spe­zi­elle Regulierungsweisen rekur­rie­ren­dem Begriff führt inner­halb der poli­tik­wis­sen­schaft­li­chen Diskurse zu eini­gen Schwierigkeiten in der Begriffsverständigung. (BENZ 2010 u. SCHUPPERT 2007) [WK]

      Quellen:
      BENZ, Arthur. „Einleitung“. In ders. u. Nicolai Dose (Hrsgg.). Governance – Regieren in kom­ple­xen Regelsystemen. Eine Einführung. Wiesbaden 2010, 12–28.
      SCHUPPERT, Gunnar Folke. „Was ist und wozu Governance?“ In: Die Verwaltung. Zeitschrift für Verwaltung und Verwaltungswissenschaften. 40. Band (2007), 463–511.
      MAYNTZ, Renate: „Governance im moder­nen Staat“. In: Arthur Benz u. Nicolai Dose (Hrsgg.). Governance – Regieren in kom­ple­xen Regelsystemen. Eine Einführung. Wiesbaden 2010 (1. Aufl. 2004.), 37–48.
  2. Literatur zum Begriff
  3. Arthur BENZ u. Nicolai DOSE (Hrsgg.). Governance – Regieren in kom­ple­xen Regelsystemen. Eine Einführung. Wiesbaden 2010 (1. Aufl. 2004). 
    BEVIR, Mark (Hrsgg.). The SAGE Handbook of Governance. London 2011. 
    MAYNTZ, Renate: „Governance im moder­nen Staat“. In: Arthur Benz u. Nicolai Dose (Hrsgg.). Governance – Regieren in kom­ple­xen Regelsystemen. Eine Einführung. Wiesbaden 2010 (1. Aufl. 2004.), 37–48.
    SCHUPPERT, Gunnar Folke. Einleitung. In: ders. u. Michael Zürn (Hrsgg.). Governance in einer sich wan­del­den Welt. Wiesbaden 2008, 13–42.
  4. Weiterführende Links
  5. WERDER, Axel von. „Cooporate Governance“. In: Gabler Wirtschaftslexikon. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/corporate-governance-28617/version-367554 (Besucht am 17. Mai 2021). 
    WIKIPEDIA Autor:innen. “Governance”. In: Wikipedia, The Free Encyclopedia, https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Governance&oldid=1011927890 (Besucht am 17. Mai 2021). [Anmerkung WK: In den bei­den im Wikipedia-Artikel (engl.) als ein­schlä­gig ange­führ­ten Werken je mit dem Titel The gover­nance of England (Plummer 1885 und Low 1914) fin­det, im Widerspruch zu der im Artikel ange­deu­te­ten Relevanz die­ser Quellen, der Begriff kaum Verwendung jen­seits des Titels. ] 
    KREMS, Burkhardt. „gover­nance“. Version 1.21 (16.05.2021). In: Online-Verwaltungslexikon. https://olev.de/g/governance.htm

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Regelungsregime

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REGELUNGSREGIME

auch: Regelregime, Regelungssystem, Steuerungsregime, Regelungsstruktur, Governance-Regime, regu­la­tory regime, sys­tème régle­men­taire, régime réglementaire

Version 1.0 (12.05.2021)

Autor: Werner Kogge

Zum Wort
Die bei­den Glieder des Kompositums ‘Regelungsregime’ kom­bi­nie­ren zwei Ausdrücke aus dem Feld des Lenkens, Leitens, Steuerns und Führens. ‘Regel’ und ‘Regime’ stam­men beide vom latei­ni­schen Verb regere ‘gera­de­rich­ten, len­ken, lei­ten’; fran­zö­sisch régime ist ver­mit­telt über das latei­ni­sche regi­men: Herrschaftsform (übers. v. gr. arché, z.B. bei Thomas von Aquin) (AQUIN, 64). Entsprechend der dort bereits ange­leg­ten Bedeutungsbreite konnte das fran­zö­si­sche Nomen schon im 15. und 16. Jahrhundert die Form der Regierungsführung, die Administration von Institutionen (z.B. Klöster), die Lebensführung und die medi­zi­ni­sche Diät bezeich­nen, seit dem 18. Jahrhundert auch tech­ni­sche Prozesse in ihrer Funktionsweise. (DdMF) Die Verdopplung im Kompositum bringt das Bewusstsein zum Ausdruck, dass zur Regelung eines Sachbereichs eine Mehrzahl von Regeln auf­ein­an­der abge­stimmt und zu einer ‘Ordnung’, einem ‘System’ oder ‘Regime’ ver­knüpft wer­den müs­sen. Regelregime, regu­la­tory regime und régime régle­men­taire sind heute stan­dard­mä­ßig Übersetzungen von­ein­an­der. [WK]

Quellen:
AQUIN, Thomas von. Kommentar zur Politik des Aristoteles. Sententia libri Politicorum, 1 Freiburg 2015. 
Dictionnaire du Moyen Français (1330–1500). http://www.atilf.fr/dmf/definition/régime (zuletzt besucht am 07.05.2021)

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte

















  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde régime régle­men­taire im Diskurs der fran­zö­si­schen Physiokraten ver­wen­det. Gemäß die­ser Lehre sollte sich die Wirtschaft einer natür­li­chen Ordnung gemäß, frei von staat­li­chen Reglements ent­fal­ten kön­nen. (ONCKEN, 172 ff.) Régime régle­men­taire bezeich­nete in die­sem Kontext das ältere, mer­kan­ti­lis­ti­sche System der Regulierung der Wirtschaft durch Privilegien, Monopole und staat­li­che Steuerung (z.B. LE TROSNE). [WK]

      Quellen:
      ONCKEN, August. Geschichte der Nationalökonomie. Hand und Lehrbuch der Staatswis-sen­schaf­ten in selb­stän­di­gen Bänden. 1. Band. Leipzig 1902. 
      LE TROSNE, Guillaume-François. De l’ordre social, ouvrage suivi d’un traité élé­men­taire sur la valeur, l’ar­gent, la cir­cu­la­tion, l’in­dus­trie & le com­merce inté­ri­eure & exté­ri­eur. Paris 1777. 
    2. Der Ausdruck regle­men­tary regime wird im neo-insti­tu­tio­na­lis­ti­schen Diskurs zu inter­na­tio­na­ler Politik für das Zusammenspiel von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren in der inter­na­tio­na­len Staatenkooperation ver­wen­det. So wurde Regime dort defi­niert als: “a set of mutual expec­ta­ti­ons, rules and regu­la­ti­ons, plans, orga­niza­tio­nal ener­gies and finan­cial com­mit­ments, which have been accepted by a group of sta­tes” (RUGGIE zitiert nach KEOHANE, 57). Damit reflek­tiert er wis­sen­schaft­lich die bereits ab den 1940er Jahren spo­ra­di­sche Verwendung des Begriffs im Kontext inter­na­tio­na­ler Koordination von Luftfahrt, Marine, Fischerei, Telekommunikation und Nukleartechnologie. Die dar­auf auf­bau­ende Regimetheorie beschäf­tigt sich mit der Theorie und Empirie insti­tu­tio­na­li­sier­ter inter­na­tio­na­ler Vereinbarungen wie das Menschenrechtsregime der UN, das Welthandelsregime (GATT) und das Kyôto-Protokoll. [WK]

      Quellen:
      KEOHANE, Robert O. After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy. Princeton 1984. 
    3. Die häu­figste Verwendung des Begriffs Regelungsregime fin­det sich in ver­wal­tungs­tech­ni­schen Kontexten (Diskurs von Verwaltungswissenschaften und Verwaltungsrecht) der prak­ti­schen Ausgestaltung pro­ze­du­ra­ler Regelung von Sachbereichen. In Kontinuität zu Semantiken wie Regelungslücke, Regelungsbedarf, Regelungsbereich, Rahmenregelung und Regelungsvariante wird der Begriff des Regelungsregimes juris­tisch und ver­wal­tungs­tech­nisch so ein­ge­setzt, dass er eine Option der Organisation von regu­lie­ren­den Elementen, seien sie recht­li­cher, struk­tu­rel­ler oder insti­tu­tio­nel­ler Art, bezeich­net (EBERHARD, 179). Der Begriff Regelungsregime steht hier in Verwandtschaft mit dem tech­ni­schen Gebrauch von ‘Regelungsregime’, in dem es um unter­schied­li­che Steuerungsmodi von Geräten und Anlagen z.B. durch elek­tro­ni­sche Verfahren geht (ELEKTRIE, 657). Den dis­kur­si­ven Rahmen bil­det das über­grei­fende Paradigma kyber­ne­ti­schen Denkens, das seit den 1950er Jahren in vie­len Diskursen prä­gend wirkte. [WK]

      Quellen:
      ELEKTRIE. Zeitschrift des Fachverbands Elektrotechnik. Band. 33. Berlin 1919 
      EBERHARD, Harald. Der ver­wal­tungs­recht­li­che Vertrag. Ein Beitrag zur Handlungsformenlehre. Wien 2005. 
    4. Im poli­tik- und sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Diskurs der Governance-Forschung ist meist ent­we­der von Regelungsstruktur oder kurz nur von Regime die Rede. Im Sinne des Governance-Ansatzes, bei dem ein koor­di­na­ti­ves Regulierungsmodell an die Stelle einer hier­ar­chisch gedach­ten Steuerungslogik tritt, bezeich­net Regelungstruktur den “institutionelle[n] Rahmen, der das Handeln der Akteure lenkt. […] Wenn man […] unter Governance ‘a sys­tem of rule’ ver­steht, dann steht jetzt nicht mehr das Machen, das […] Steuerungshandeln im Zentrum des Interesses, son­dern die mehr oder we-niger frag­men­tierte oder inte­grierte, nach unter­schied­li­chen Prinzipien gestal­tete Regelungsstruktur.” (MAYNTZ) In die­sem Sinne wird inzwi­schen auch ver­mehrt von Governance-Regimen gespro­chen. So zum Beispiel: “Der Fokus liegt auf Mechanismen der Handlungskoordinierung, die in den Governance-Modi ihren Ausdruck fin­den, die ihrer­seits zu auf­ga­ben­be­zoge-nen Governance-Regimen ver­knüpft wer­den.” (SCHUPPERT, 34) [WK]

      Quellen:
      MAYNTZ, Renate. Governance Theory als fort­ent­wi­ckelte Steuerungstheorie? In: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung: Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien (pp. 11–20). Baden-Baden 2005. https://pure.mpg.de/pubman/faces/ViewItemFullPage.jsp?itemId=item_1233939 (zuletzt besucht am 29.04.2022)
      SCHUPPERT, Gunnar Folke. Governance – auf der Suche nach Konturen eines „aner­kannt unein­deu­ti­gen Begriffs“. In: ders. u. Michael Zürn (Hrsg.). Governance in einer sich wan­deln­den Welt. Wiesbaden 2008. 
  2. Literatur zum Begriff
  3. KEOHANE, Robert O. After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy. Princeton 1984. 
    SCHUPPERT, Gunnar Folke u. Michael Zürn (Hrsg.). Governance in einer sich wan­deln-den Welt. Wiesbaden 2008. 
  4. Weiterführende Links
  5. MAYNTZ, Renate. Governance Theory als fort­ent­wi­ckelte Steuerungstheorie? In: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung: Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien (pp. 11–20). Baden-Baden 2005. https://pure.mpg.de/pubman/faces/ViewItemFullPage.jsp?itemId=item_1233939 (zuletzt besucht am 29.04.2022)

PDF Zitiervorschlag: Werner Kogge, „Regelungsregime“, Version 1.0, 12.05.2021, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/refubium-30644

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SCHRIFT

Version 2.0 (17.02.2020; erhal­ten am: 15.11.2016)

Autor: Werner Kogge

Zum Wort
Dem deut­schen Wort Schrift, von latei­nisch scri­bere, ent­spricht im Englischen die nomi­na­li­sierte Verbform wri­ting, wäh­rend das Substantiv script im Englischen in ers­ter Linie auf Schrifterzeugnisse abzielt. Ursprünge sowohl des eng­li­schen als auch des latei­ni­schen und grie­chi­schen (graphein) Verbs lie­gen in Vorgängen des Einritzens und Einzeichnens. [WK]

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte



















  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. Im pho­no­gra­phi­schen Paradigma des sprach­wis­sen­schaft­li­chen Diskurses gilt Schrift als Notation von gespro­che­ner Sprache. Gemäß die­ser Auffassung wird Schrift, ers­tens, aus­schließ­lich auf Sprache im enge­ren Sinn bezo­gen und, zwei­tens, ihr als deren media­ler Verkörperung nach­ge­ord­net. Bereits Ferdinand DE SAUSSURE (1916) hatte pos­tu­liert: „Sprache und Schrift sind zwei ver­schie­dene Systeme von Zeichen; das letz­tere besteht nur zu dem Zweck, um das ers­tere dar­zu­stel­len.“ (28) Entsprechend heißt es im Handbuch Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use: Schrift ist „die Menge der gra­phi­schen Zeichen, mit denen die gespro­chene Sprache fest­ge­hal­ten wird.“ (VIII) Und im Lexikon der Sprachwissenschaft lau­tet die Definition: „Schrift. Auf kon­ven­tio­na­li­sier­tem System von gra­phi­schen Zeichen basie­ren­des Mittel zur Aufzeichnung münd­li­cher Sprache“ (608). [WK]

      Quellen:
      DE SAUSSURE, Ferdinand. Grundfragen der all­ge­mei­nen Sprachwissenschaft. Berlin 1967 (franz. zuerst 1916). 
      GÜNTHER, Hartmut, und LUDWIG, Otto, (Hrsgg.). Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein inter­dis­zi­pli­nä­res Handbuch inter­na­tio­na­ler Forschung. Berlin/New York 1994. 
      BUßMANN, Hadumod. „Schrift“. In: DERS. Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart 2008. 
      HAARMANN, Harald. Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt u. a. 1991. 
      Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 59 (1985), Themenheft ‚Schriftlichkeit’. Hrsg. v. Wolfgang KLEIN. 
    2. Ausgangspunkt eines medi­en­theo­re­ti­schen Diskurses in der zwei­ten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die (seit­dem umstrit­tene) These von der Sonderstellung der Alphabetschrift. Die Toronto-Schule, die zu Beginn der 1960er Jahre maß­geb­lich zur Entstehung der moder­nen Medienwissenschaften bei­getra­gen hat und zu der Autoren wie Harold A. INNIS, Eric A. HAVELOCK, Jack GOODY, Marshall MCLUHAN, Walter J. ONG und Ian WATT gerech­net wer­den, ver­half einer Sichtweise zur Geltung, die die Struktur der grie­chi­schen Alphabetschrift mit der Entwicklung der abend­län­di­schen Rationalität in engen Zusammenhang rückte. Nur die Alphabetschrift mit ihrer ein­zig­ar­ti­gen Zergliederung der gespro­che­nen Sprache in Konsonanten und Vokale, also in ato­mare Einheiten, die unter­halb der Ebene der Artikulationseinheiten der gespro­che­nen Sprache liegt, erzeugt, so die These, ein äußerst fle­xi­bel hand­hab­ba­res, tech­ni­sches Medium, das Distanznahme, Reflexion und ein indi­vi­du­el­les Gedächtnis erst ermög­licht. Diese These wurde bereits von Jack GOODY rela­ti­viert und in jün­ge­rer Zeit als ver­kürzt und eth­no­zen­trisch kri­ti­siert (GROSSWILER 2004). [WK]

      Quellen:
      ASSMANN, Aleida, und ASSMANN, Jan. „Schrift – Kognition – Evolution. Eric A. Havelock und die Technologie kul­tu­rel­ler Kommunikation.“ In: HAVELOCK, Eric A., (Hrsg.). Schriftlichkeit. Das grie­chi­sche Alphabet als kul­tu­relle Revolution. Weinheim 1990, 1–35.
      GROSSWILER, Paul. „Dispelling the Alphabet Effect.” In: Canadian Journal of Communication and Journalism 29 (2004), 145–158.
    3. In einem durch Jacques DERRIDAS Grammatologie gepräg­ten Diskurs zu Schrift als dif­fe­ren­ti­elle und digi­tale Form wird Schrift – teils fun­da­men­tal, teils zeit­dia­gnos­tisch – als Form von Medialität betrach­tet. DERRIDA ver­knüpfte mit dem Begriff Schrift das Konzept einer ‘Urschrift’, die als dif­fe­ren­zi­el­les Geschehen Denken, Geschichte, Identität erst her­vor­bringt. Er eröff­nete damit einen meta­phy­sik­kri­ti­schen Diskurs, der Substanz und Präsenz durch den Rekurs auf Prozessualität und Differentialität zu unter­lau­fen suchte. Schrift wird hier mit der Bewegung eines, sich selbst ent­zie­hen­den, kon­sti­tu­ie­ren­den Spiels oder gene­ra­ti­ven Mechanismus gleich­ge­setzt: „Schreiben heißt, ein Zeichen (mar­que) pro­du­zie­ren, das eine Art ihrer­seits nun pro­du­zie­rende Maschine kon­sti­tu­iert, die durch mein zukünf­ti­ges Verschwinden prin­zi­pi­ell nicht daran gehin­dert wird, zu funk­tio­nie­ren und sich lesen und nach­schrei­ben zu las­sen.” (134) Mit Blick auf die ato­mare Grundstruktur von Schriften (als Struktur aus ein­deu­tig bestimm­ten und ein­deu­tig zu unter­schei­den­den Elementen (FISCHER 1997 ) wurde ‚Schrift’ zum Label für digi­tale Struktur über­haupt. Theoretiker der neuen Medien konn­ten daher Schriftlichkeit mit dem Operieren (digi­ta­ler) Maschinen iden­ti­fi­zie­ren. So for­dert etwa Vilém FLUSSER, „das Schreiben, die­ses Ordnen von Zeichen, Maschinen [zu] über­las­sen“ (10) und Friedrich KITTLER dia­gnos­ti­ziert: „Heute … läuft mensch­li­ches Schreiben durch Inschriften, die nicht nur mit­tels Elektonenlithographie in Silizium ein­ge­brannt, son­dern im Unterschied zu allen Schreibwerkzeugen der Geschichte auch imstande sind, sel­ber zu lesen und zu schrei­ben.“ Daher sei „mit der Miniaturisierung aller Zeichen auf mole­ku­lare Maße […] der Schreibakt selbst ver­schwun­den“ (226). [WK]

      Quellen:
      DERRIDA, Jacques. Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1972 (1966).
      DERRIDA, Jacques. Grammatologie. Frankfurt a. M. 1983 (1967).
      DERRIDA, Jacques. „Signatur. Ereignis. Kontext.“ In: DERS. Randgänge der Philosophie. Frankfurt a. M. u. a. 1976, 124–155.
      FISCHER, Martin. „Schrift als Notation.“ In: KOCH, Peter, und KRÄMER, Sybille, (Hrsgg.). Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes. Tübingen 1997, 83–101.
      FLUSSER, Vilém. Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Frankfurt a. M. 1992. 
      KITTLER, Friedrich. „Es gibt keine Software.“ In: DERS. Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, 225–242.
    4. Aus der Perspektive der sym­bol­theo­re­ti­schen Schriftbildlichkeitsforschung wird die land­läu­fige Beschränkung von Schriften auf die Aufzeichnung gespro­che­ner Sprachen als irre­füh­rend betrach­tet: Die Verwendung von Schriften in Mathematik und Buchhaltung (schrift­li­ches Rechnen; Bestandslisten), Musik (Notenschriften), Naturwissenschaften (Formelschreibweisen) und Informatik (Programmierung) sowie die Transformation und Analyse von Sprachen in der Verschriftlichung zeigt, dass das Medium Schrift in Beziehung zu unter­schied­li­chen Sachbereichen ste­hen kann – gespro­chene Sprachen sind nur ein Anwendungsfeld von Schriften. Untersuchungen zu Kriterien, die eine Unterscheidung von Schriften von ver­wand­ten Phänomenen ermög­li­chen, zie­hen bild­li­che, ope­ra­tive und seman­ti­sche Aspekte von Schriften in Betracht (KOGGE/GRUBE 2005). [WK]

      Quellen:
      KOGGE, Werner, und GRUBE, Gernot. „Der Begriff der Schrift und die Frage nach der Forschung in der Philosophie.“ In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1 (2007), 81–96.
      KRÄMER, Sybille. „‚Schriftbildlichkeit’ oder: Über eine (fast) ver­ges­sene Dimension der Schrift.“ In: KRÄMER, Sybille, und BREDEKAMP, Horst, (Hrsgg.). Bild — Schrift — Zahl. München 2003. 
    5. Im Diskurs um Entstehung und frühe Erscheinungsformen von Schrift in den Altertumswissenschaften spielt die Unabhängigkeit von Schriften gegen­über gespro­che­nen Sprachen und ihr Verhältnis zu Bildern und Rechenoperationen eine ent­schei­dende Rolle. Denn die ältes­ten bekann­ten Schriften dien­ten kei­nes­wegs zur Aufzeichnung von Sprachen, son­dern der Buchhaltung in admi­nis­tra­ti­ven Kontexten (gemäß Stand der Forschung tre­ten die ältes­ten Schriften im süd­li­chen Mesopotamien am Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. als Kombination von Zahlzeichen und Benennungen auf; die in die­sen Dokumenten ver­wen­de­ten Namen wur­den auch in lexi­ka­li­schen Listen ver­zeich­net). Sie ste­hen damit in Kontinuität zu vor­gän­gi­gen Zähl- und Aufzeichnungssystemen. Die Adaption von Schriften zur Aufzeichnung gespro­che­ner Sprachen bil­det ein Thema der Untersuchung viel­ge­stal­ti­ger Transformationsprozesse, ebenso die Vorgänge der Ausbreitung, Übernahme und Anpassung an wei­tere Verwendungssysteme. [WK]

      Quellen:
      NISSEN, Hans-Jörg, DAMEROW, Peter, und ENGLUND, Robert K. Frühe Schrift und Techniken der Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient. Berlin 1990. 
      CANCIK-KIRSCHBAUM, Eva. „Phänomene von Schriftbildlichkeit in der keil­schrift­li­chen Schreibkultur Mesopotamiens.“ In: KRÄMER, Sybille, CANCIK-KIRSCHBAUM, Eva, und TOTZKE, Rainer, (Hrsgg.). Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin 2012, 101–122.
  2. Literatur zum Begriff
  3. KOGGE, Werner, und GRUBE, Gernot. „Zur Einleitung: Was ist Schrift?“ In: GRUBE, Gernot, KOGGE, Werner, und KRÄMER, Sybille, (Hrsgg.). Schrift. Kulturtechnik zwi­schen Auge, Hand und Maschine. München 2005, 9–21.
  4. Weiterführende Links
  5. Ein Überblick zum ein­schlä­gi­gen Handbuch Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein inter­dis­zi­pli­nä­res Handbuch inter­na­tio­na­ler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research, her­aus­ge­ge­ben von Hartmut Günther und Otto Ludwig, Berlin/New York 1994–1996, fin­det sich hier.

PDF Zitiervorschlag: Werner Kogge, „Schrift“, Version 2.0, 17.02.2020, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/refubium-30373

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  • Version 2.0 (diese Version) 
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Politik

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POLITIK

Version 1.0 (15.11.2019; erhal­ten am: 25.06.2019)

Autor: Mark Brown

Zum Wort
Das Wort Politik kommt vom grie­chi­schen Πολιτικά, poli­tiká, „die Angelegenheiten der Polis.“ In den meis­ten euro­päi­schen Sprachen wurde das Wort vor dem 19. Jahrhundert nicht als eine bestimmte Form mensch­li­cher Aktivität, son­dern als eine wis­sen­schaft­li­che Disziplin, jetzt Politikwissenschaft genannt, ver­stan­den. Während des 18. Jahrhunderts, mit der funk­tio­na­len Differenzierung der Gesellschaft, wurde das Wort Politik zuneh­mend mit einer bestimm­ten Sphäre ver­bun­den, meis­tens gleich­ge­setzt mit dem Staat oder dem Gemeinwesen. Etwas spä­ter hat das Wort eine dritte Bedeutung bekom­men, näm­lich die einer insti­tu­tio­nell unge­bun­de­nen Aktivität mit spe­zi­fi­schen Praktiken und Normen (PALONEN 2006; WARREN 1999). In Hinsicht auf ihre Haltung zu Politisierung las­sen sich die Begriffsparadigmen ver­schie­de­ner Diskurse am deut­lichs­ten auf­zei­gen. [MB]

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte














  2. Literatur zum Begriff

  1. Diskurse und Kontexte
    1. In der klas­si­schen oder repu­bli­ka­ni­schen Auffassung wird Politik als das gemein­wohl-ori­en­tierte Zusammenleben einer Gemeinschaft ver­stan­den (ARISTOTELES, Politik). In den Theorien von ARISTOTELES, ROUSSEAU und man­chen heu­ti­gen Verfechtern einer kom­mu­ni­ta­ris­ti­schen oder repu­bli­ka­ni­schen Politik wird Politik mit Tugenden wie Vernunft, Gemeinschaftssinn und Kompromissbereitschaft ver­bun­den. Die Freiheit des Menschen wird in der Politik rea­li­siert (ARENDT 1981 (1958)). Aus die­ser Sicht ist die Politisierung von bis­her als nicht-poli­tisch ver­stan­de­nen Institutionen im Zweifel zu befür­wor­ten, weil Politik mit wün­schens­wer­ten Eigenschaften und Zielen asso­zi­iert wird. [MB]

      Quellen:
      ARISTOTELES. Politik.
      ARENDT, Hannah. Vita activa oder Vom täti­gen Leben (1958). München 1981. 
    2. In der poli­ti­schen Theorie des Liberalismus von HOBBES und LOCKE bis heute wird Politik als ein gesetz­lich gere­gel­tes Verfahren auf­ge­fasst, in dem Interessenskonflikte einer plu­ra­lis­ti­schen Gesellschaft aus­ge­han­delt wer­den (DAHL 1991). Politik wird nicht als Ort der per­sön­li­chen oder gesell­schaft­li­chen Verwirklichung ver­stan­den, son­dern als instru­men­tel­les Mittel, all­ge­mein­ver­bind­li­che Entscheidungen zu tref­fen. Aus die­ser Sicht ist die Politik vor allem dem Schutz von indi­vi­du­el­len Rechten und Interessen ver­pflich­tet. Für ein libe­ra­les Politikverständnis wird Politisierung meis­tens als Bedrohung emp­fun­den, da sie neue Interessenskonflikte pro­du­ziert, die gesell­schaft­li­che Arbeitsteilung unter­mi­niert und den öffent­li­chen Frieden gefähr­det. [MB]

      Quellen:
      DAHL, Robert A. Modern Political Analysis. 5. Ed. Englewood Cliffs, NJ 1991. 
    3. Für die Tradition des poli­ti­schen Realismus ist die Politik ein Machtkampf. Moralische Richtlinien und opti­mis­ti­sche Einschätzungen der mensch­li­chen Natur sind hier fehl am Platz. Für Denker wie MACHIAVELLI (Der Fürst), Carl SCHMITT (1963 (1932)) und Max WEBER (2009 (1919)) geht es in der Politik um Staatsräson, das Erlangen und den Erhalt von staat­li­cher Macht. Aus die­ser Perspektive ist sowohl die repu­bli­ka­ni­sche Hoffnung auf gemein­schaft­li­chen Konsens als auch die libe­rale Wertschätzung von unbe­streit­ba­ren uni­ver­sel­len Rechten glei­cher­ma­ßen naiv und gefähr­lich. Manche Aspekte die­ser Politikauffassung fin­den sich auch in soge­nann­ten „agnos­ti­schen“ Ansätzen der heu­ti­gen poli­ti­schen Theorie, etwa bei Chantal MOUFFE (2007) und ande­ren Verfechtern einer robus­ten, kon­flikt­freund­li­chen Politik. Für Denker die­ser Gesinnung dient die Politisierung der Aufdeckung und Thematisierung von laten­ten Konflikten, die sonst durch ver­meint­li­chen Konsens unter­drückt wür­den. [MB]

      Quellen:
      MACHIAVELLI, Niccolò. Der Fürst.
      MOUFFE, Chantal. Über das Politische. Wider die kos­mo­po­li­ti­sche Illusion. Frankfurt/Main 2007.
      SCHMITT, Carl. Der Begriff des Politischen (1932). Berlin 1963.
      WEBER, Max. Politik als Beruf (1919). Stuttgart 2009.
    4. Im Vergleich zu repu­bli­ka­ni­schen und libe­ra­len Theorien, die ihr Verständnis von Politik an vor­po­li­ti­schen Werten und Zielen ori­en­tie­ren (das Gemeinwohl einer­seits, indi­vi­du­elle Rechte ander­seits), hat die Politik für prag­ma­ti­sche, deli­be­ra­tive und kon­struk­ti­vis­ti­sche Ansätze die Aufgabe, Grundsätze einer poli­ti­schen Gemeinschaft immer wie­der neu zu legi­ti­mie­ren oder gege­be­nen­falls in Frage zu stel­len (DEWEY 1927 (1954); HABERMAS 1992). Nicht nur poli­ti­sche Entscheidungen, son­dern auch die Maßstäbe, an denen sie gemes­sen wer­den, müs­sen durch poli­ti­sche Prozesse ver­schie­de­ner Art kon­stru­iert wer­den. Im Vergleich zu rea­lis­ti­schen Ansätzen sieht die prag­ma­ti­sche Tradition mehr Möglichkeiten für eine demo­kra­tisch-legi­time Verwendung von poli­ti­scher Macht. Aus die­ser Sicht ist eine Politisierung von bestimm­ten Sachverhalten immer inso­fern gerecht­fer­tigt, als die Politik ein effek­ti­ves Mittel für kol­lek­tive Problemlösung bie­tet. [MB]

      Quellen:
      DEWEY, John. The Public and Its Problems (1927). Athens, OH 1954.
      HABERMAS, Jürgen. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demo­kra­ti­schen Rechtsstaats. Frankfurt/Main 1992. 
    5. Angesichts der andau­ern­den Kontroversen über unter­schied­li­che Politikvorstellungen ist ein Diskurs um „post­fun­da­men­ta­lis­ti­sche“ (eng­lisch: post­foun­da­tio­nal) Politikbegriffe ent­stan­den, der diese Kontroverse selbst zum Gegenstand ihrer Forschung macht (BEDORF und RÖTTGERS 2010; MARCHART 2010). Diese Forschungen ver­su­chen der Ambiguität des Begriffs Politik gerecht zu wer­den, u. a. indem sie zwi­schen der all­täg­li­chen poli­ti­schen Praxis, Politik genannt, und ihren ver­meint­li­chen Grundlagen, dem Politischen, unter­schei­den. Mit die­ser Unterscheidung, die bei unter­schied­li­chen Autoren sehr unter­schied­lich ver­stan­den wird, las­sen sich die gesell­schaft­li­chen Auseinandersetzungen the­ma­ti­sie­ren, durch die man­che Praktiken und Institutionen als poli­tisch defi­niert wer­den. In die­sem Zusammenhang wird auch die Frage unter­sucht, ob öko­no­mi­sche und büro­kra­ti­sche Zwänge eine echte Politik zuneh­mend unmög­lich machen, und ob heu­tige Gesellschaften sich in einer Ära der „Post-Politik“ befin­den (ARENDT 1981 (1958); MOUFFE 2007). [MB]

      Quellen:
      ARENDT, Hannah. Vita activa oder Vom täti­gen Leben (1958). München 1981. 
      BEDORF, Thomas, und RÖTTGERS, Kurt. Das Politische und die Politik. Frankfurt/Main 2010. 
      MARCHART, Oliver. Die poli­ti­sche Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin 2010. 
      MOUFFE, Chantal. Über das Politische. Wider die kos­mo­po­li­ti­sche Illusion. Frankfurt/Main 2007. 
  2. Literatur zum Begriff
  3. CELIKATES, Robin, und GOSEPATH, Stefan. „Was ist Politik?“ In: Grundkurs Philosophie, Band 6: Politische Philosophie. Stuttgart 2013, 14–23.
    LEFTWICH, Adrien, (Hrsg.). What is Politics? Cambridge 2004.
    MEYER, Thomas. Was ist Politik? 2., über­ar­bei­tete und erwei­terte Auflage. Opladen 2003.
    PALONEN, Kari. The Struggle with Time: A Conceptual History of ‘Politics’ as an Activity. Hamburg 2006.
    WARREN, Mark E. “What is Political?” In: Journal of Theoretical Politics 11.2 (1999), 207–231.

PDF Zitiervorschlag: Mark Brown, „Politik“, Version 1.0, 15.11.2019, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/refubium-30378

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Intention / Intentionalität

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INTENTION / INTENTIONALITÄT

Version 1.0 (11.11.2019; erhal­ten am: 11.11.2019)

Autor*inn*en: Ulla Jaekel, Patricia Kanngießer, Reinhard Bernbeck, Arkadiusz Chrudzimski

Zum Wort
Intention, im 16. Jh. dem latei­ni­schen inten­tio/-ōnis ent­lehnt, meint eine absicht­li­che Handlung bzw. einen Vorsatz, ein bestimm­tes Ziel zu errei­chen, und folgt hier­mit dem latei­ni­schen Begriff inten­dere in sei­ner Bedeutung als einem sich „hin­wen­den, sein Streben auf etwas rich­ten“ (KLUGE 2001). Der Begriff Intentionalität im Sinne von Absichtlichkeit fin­det sich schon Ende des 18. Jahrhunderts, etwa bei Immanuel KANT, zu einem theo­re­ti­schen Grundbegriff wurde er zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Phänomenologie Edmund HUSSERLS. [UJ]

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte







  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. Der Begriff Intentionalität wird im phi­lo­so­phi­schen Diskurs als eine Fähigkeit des Menschen ver­stan­den, sich auf etwas zu bezie­hen – seien es reale oder nicht reale Gegenstände, Ideen, Sachverhalte oder Eigenschaften. Aufbauend auf anti­ken Theorien wurde der Begriff vor allem durch Franz BRENTANO und den Phänomenologen Edmund HUSSERL geprägt.

      Die inten­tio­nale Beziehung unter­schei­det sich von den typi­schen Relationen, wie z. B. grö­ßer als … sein oder neben … sit­zen. Zum einen kön­nen wir uns auf etwas inten­tio­nal bezie­hen auch dann, wenn die­ses etwas nicht exis­tiert (z. B. an den hei­li­gen Nikolaus den­ken). Zum ande­ren ist das Bestehen der inten­tio­na­len Beziehung davon abhän­gig, wie das Referenzobjekt beschrie­ben wird. (Von der Behauptung, dass Hans an den Abendstern denkt, kann man nicht ohne wei­te­res dar­auf schlie­ßen, dass er auch an den Morgenstern denkt.) Die genann­ten Anomalien wer­den oft als „exis­ten­tiale Indifferenz“ und „Aspektualität“ der inten­tio­na­len Beziehung bezeich­net.

      Abhilfe sucht man, indem man neben dem Subjekt und dem Referenzgegenstand noch ein drit­tes Glied ein­führt, das in der Geschichte der Philosophie unter dem Namen „Idee“, „Repräsentation“, „imma­nen­tes Objekt“ oder „Noema“ behan­delt wird. Im Rahmen die­ser Auffassung kann man behaup­ten, dass es eine imma­nente Repräsentation (imma­nen­tes Objekt, Noema etc.) selbst dann gibt, wenn kein tran­szen­den­ter Referenzgegenstand oder unter­schied­li­che Bezugnahmen auf das­selbe Objekt gege­ben sind.

      Dieses Erklärungsschema wurde in der Geschichte der Philosophie oft ver­wen­det (SEARLE 1983). So ist nach Franz BRENTANO die inten­tio­nale Inexistenz eines Gegenstandes das Definitionsmerkmal des Mentalen (BRENTANO 2008 (1874)) und bei HUSSERL fin­den wir sogar noch eine wei­tere Unterscheidung zwi­schen Noema, dem inten­dier­ten Objekt, und Noesis, dem men­ta­len Akt (HUSSERL 1984 (1901)).

      In der Tradition der intro­spek­ti­ven Psychologie und Phänomenologie geht man davon aus, dass man den epis­te­mi­schen Zugang zu den Strukturen der inten­tio­na­len Beziehung durch eine gewisse imma­nente Blickwendung gewinnt. Franz BRENTANO spricht in die­sem Kontext von der inne­ren Wahrnehmung und bei HUSSERL fin­den wir die Lehre von der tran­szen­den­ta­len Reflexion. [UJ/AC]

      Quellen:
      BRENTANO, Franz. „Psychologie vom empi­ri­schen Standpunkte“ (1874). In: BRENTANO, Franz. Psychologie vom empi­ri­schen Standpunkte. Von der Klassifikation der psy­chi­schen Phänomene (Sämtliche ver­öf­fent­lichte Schriften, hrsg. von T. Binder, A. Chrudzimski, Bd. I). Frankfurt/Main 2008, 1–289.
      HUSSERL, Edmund. Logische Untersuchungen, Bd. II, Teil 1/2, Halle 1901 (Husserliana XIX/1 & XIX/2. Hg. U. Panzer). Den Haag 1984. 
      SEARLE, John R. Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind. Cambridge 1983. 
    2. Aus einer auf VYGOTSKY zurück­zu­füh­ren­den Perspektive der Entwicklungspsychologie haben TOMASELLO und Kollegen den Begriff der geteil­ten Intentionalität oder „Wir“-Intentionalität geprägt. Darunter wer­den Aktivitäten ver­stan­den, bei denen Menschen psy­cho­lo­gi­sche Zustände mit­ein­an­der tei­len, z. B. indem sie ein gemein­sa­mes Ziel ver­fol­gen, einen gemein­sa­men Handlungsplan umset­zen oder eine gemein­same Erfahrung mit­ein­an­der tei­len. Nach Stand aktu­el­ler Forschung zei­gen Menschen die Fähigkeit zur geteil­ten Intentionalität zwi­schen dem ers­ten und zwei­ten Lebensjahr; bei den nächs­ten bio­lo­gi­schen Verwandten des Menschen – den Menschenaffen – konnte diese Fähigkeit bis­her nicht gezeigt wer­den. Es wird davon aus­ge­gan­gen, dass die Fähigkeit zur geteil­ten Intentionalität eine wich­tige Grundlage für mensch­li­che Kultur dar­stellt. [PK]

      Quellen:
      TOMASELLO, Michael, und CARPENTER, Malinda. „Shared inten­tio­na­lity“. In: Developmental Science 10.1 (2007), 121–125.
      TOMASELLO, Michael, CARPENTER, Malinda, CALL, Josep, BEHNE, Tanya, und MOLL, Henrike. „Understanding and sha­ring inten­ti­ons: The ori­g­ins of cul­tu­ral cogni­tion“. In: Behavioral and Brain Sciences 28.5 (2005), 675–691.
    3. In der Archäologie ist „Intentionalität“ im Sinne reflek­tier­ter Handlungsabsichten ein aus­ge­spro­chen rele­van­tes Thema, obwohl es kaum begriff­lich reflek­tiert wird. Intentionen erschei­nen dort, wo ziel­ge­rich­te­tes Handeln the­ma­ti­siert wird (Grabanlage, Hausbau), bis hin zu kom­ple­xen Rekonstruktionen nament­lich bekann­ter Individuen. Problematisch sind post hoc-Intentionalisierungen, die man in archäo­me­tri­schen Materialanalysen oft fin­det.

      Wo Intentionalität in der Archäologie theo­re­tisch dis­ku­tiert wird, geschieht dies meist ableh­nend, etwa in „agency“- und „prac­tice theory“-Debatten (DOBRES und ROBB 2000; DORNAN 2001). Dabei wird Praxis als ver­kör­per­licht oder als per Sozialisation inte­rio­ri­siert, als nicht wei­ter reflek­tiert und reflek­tier­bar hin­ge­stellt. Wenn über­haupt, erscheint Intentionalität als dem „prak­ti­schen Bewusstsein“ bei­seite gestell­tes „dis­kur­si­ves Bewusstsein“.

      Als vor­läu­fi­ger Ansatz einer begriff­li­chen Fassung kön­nen unter­schied­li­che Arten von Intentionen unter­schie­den wer­den (BERNBECK 2003a). Experimentell sind Intentionen dann, wenn das Ziel von Handlungen nur vage for­mu­liert wer­den kann und nach Methoden zur Umsetzung gesucht wird. Reguliert sind sie, wenn bekannte Regeln und Ziele in einer rou­ti­nier­ten Weise in Übereinstimmung gebracht wer­den. Situational ist Intentionalität, wenn ohne wei­tere Regelkenntnisse ein Verfahren etwa zur Herstellung von Objekten durch­ge­führt wird, womit man sehr nahe am übli­chen Praxis-Begriff der Archäologie ist. Schließlich gibt es obstruk­tive Intentionalität, die auf einer negie­ren­den Zielsetzung beruht (BERNBECK 2003a, BERNBECK 2003b). [RB]

      Quellen:
      BERNBECK, Reinhard. „Die Vorstellung der Welt als Wille. Zur Identifikation von inten­tio­nel­lem Handeln in archäo­lo­gi­schen Kontexten“. In: HEINZ, Marlies, EGGERT, Manfred K.H., und VEIT, Ulrich, (Hrsgg.). Zwischen Erklären und Verstehen? Beiträge zu den erkennt­nis­theo­re­ti­schen Grundlagen archäo­lo­gi­scher Interpretation. Münster 2003, 201–237. (2003a)
      BERNBECK, Reinhard. „The Ideologies of Intentionality“. In: Rundbrief der Arbeitsgemeinschaft Theorie in der Archäologie 2.2 (2003), 44–50. (2003b)
      DOBRES, Marica-Ann, und ROBB, John, (Hrsgg.). Agency in Archaeology. London 2000. 
      DORNAN, Jennifer L. „Agency and Archaeology: Past, Present, and Future Directions.“ In: Journal of Archaeological Method and Theory 9.4 (2002), 303–329.
  2. Literatur zum Begriff
  3. KLUGE, Friedrich. „Intention“. In: KLUGE, Friedrich, bearb. von SEEBOLD, Elmar. Etymologisches Wörterbuch der deut­schen Sprache. Berlin/New York 2001.
    CHRUDZIMSKI, Arkadiusz. Intentionalität, Zeitbewusstsein und Intersubjektivität. Studien zur Phänomenologie von Brentano bis Ingarden. Frankfurt/Main 2005.
    MAYER, Verena. Edmund Husserl. München 2009.
    JOYCE, Rosemary A. „Unintended Consequences? Monumentality as a Novel Experience in Formative Mesoamerica”. In: Journal of Archaeological Method and Theory 11.1 (2004), 5–29.
    PAUKETAT, Timothy. „Practice and History in Archaeology: An Emerging Paradigm”. In: Anthropological Theory 1.1 (2001), 73–98.
  4. Weiterführende Links
  5. Empfehlenswerter Wikipedia-Artikel zu Intentionalität (letz­ter Zugriff: 12. März 2019)

PDF Zitiervorschlag: Ulla Jaekel, Patricia Kanngießer, Reinhard Bernbeck, Arkadiusz Chrudzimski, „Intention/Intentionalität“, Version 1.0, 11.11.2019, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/refubium-30379

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