Dinge

ORGANON ter­mi­no­logy tool­box (von gr. ὄργανον: Werkzeug) ist ein Instrument zur Orientierung in der Landschaft inter­dis­zi­pli­när rele­van­ter Begriffe und Theorien. Mit weni­gen Blicken fin­den Sie hier einen Überblick über rele­vante Diskurse, Grundlagentexte und wei­ter­füh­rende Links.

DINGE

Version 1.0 (10.10.2017; erhal­ten am: 14.12.2016)

Autor: Stefan Schreiber

Zum Wort
In der grie­chi­schen Philosophie wurde häu­fig prag­mata im Sinne von Sache, Beschäftigung oder Angelegenheit ver­wen­det. Dies ent­spricht in etwa den lat. res und causa, Ding und Sache. Das in den ger­ma­ni­schen Sprachen ver­wen­dete Þing/Thing/Ding geht auf germ. *þenga- zurück und meint Übereinkommen bzw. (Gerichts-)Versammlung. [StS]

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte













  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. Im onto­lo­gi­schen Sinne wer­den Dinge seit der Antike als phy­si­sche und der Wahrnehmung zugäng­li­che Erscheinungsformen des Seins ver­stan­den. Strittig ist, was sie als Entitäten aus­macht und zusam­men­hält. Insbesondere der Atomismus LEUKIPPS und DEMOKRITS sowie die Unterscheidung in Materie/Stoff (gr. hýlē) und Form (gr. mor­phḗ) in der Substanzlehre ARISTOTELES’ (Metaphysik) präg­ten die antike Diskussion. PLATON dage­gen ent­warf in sei­ner Ideenlehre die Dinge als ver­gäng­li­che Abbilder (gr. eidos) unver­gäng­li­cher Ideen. Erst die Ideen gäben den Dingen Sein und Wesen (gr. ousía). Damit schuf er eine Unterscheidung, die René DESCARTES in einen Dualismus umwan­delte, der Leib/Körper einer­seits und Seele/Geist ande­rer­seits schied. Bis heute wirkt die­ser Dualismus in Form der Trennung von Objekt und Subjekt fort (BECKERMANN 1999). [StS]

      Quellen:
      BECKERMANN, Ansgar. „Leib-Seele-Problem“. In: SANDKÜHLER, Hans Jörg, (Hrsg.), Enzyklopädie der Philosophie, Band 1. Hamburg 1999, 766–774.
    2. Ethnologie und archäo­lo­gi­sche Praktiken und Methoden gren­zen die Untersuchung von Dingen oft auf mensch­lich her­ge­stellte oder ver­wen­dete Artefakte ein. Da sich deren Form und Funktion nach den jewei­li­gen kul­tu­rel­len Vorstellungen rich­ten, spricht man meist von Materieller Kultur oder Sachkultur (HAHN 2005). Die Ansätze unter­schei­den sich einer­seits durch funk­tio­na­lis­ti­sche und evo­lu­tio­nis­ti­sche Fragestellungen zur Entwicklung des Menschen gene­rell und ande­rer­seits zu kul­tur­spe­zi­fi­schen Herstellungsprozessen ein­zel­ner Zeit-Räume. In ers­te­rem Fall steht die Anpassungsleistung des Menschen an natür­li­che Anforderungen im Mittelpunkt. Energetischer und Ressourcenaufwand sowie tech­no­lo­gi­sche Innovationen sind die Hauptindikatoren sol­cher Artefaktentwicklung. In kul­tur­spe­zi­fi­schen Fragestellungen wer­den vor allem chrono-typo­lo­gi­sche Ausprägungen von Artefakten ana­ly­siert. Untersuchungen zu Form- und Stilentwicklungen tre­ten neben jene tech­no­lo­gi­scher chaîne ope­ra­toires (LEMONNIER 1992). Über Artefaktverbreitungen wer­den weit­rei­chende kul­tur­his­to­ri­sche Fragestellungen wie Austauschbeziehungen, kul­tu­relle Räume, Normen und Grenzen beant­wor­tet. [StS]

      Quellen:
      HAHN, Hans Peter. Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin 2005.
      LEMONNIER, Pierre. Elements for an Anthropology of Technology. Ann Arbor 1992. 
    3. Als Zeichen- und Bedeutungsträger wer­den Dinge in semio­ti­schen und kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­re­ti­schen Ansätzen begrif­fen. Diese Bedeutungen wer­den den vor­ran­gig auf­grund von Form und Material fest­ge­leg­ten Funktionen ent­ge­gen­ge­stellt. Dinge kön­nen zwar ihre prak­ti­sche Funktion ein­bü­ßen, als Semiophoren – Bedeutungsträger – im musea­len oder Grabkontext jedoch immer noch als „Repräsentanten des Unsichtbaren“ (POMIAN 1988, 58) die­nen. Die mate­ri­elle Dimension von Dingen wird hier­bei auf ihre Dauerhaftigkeit redu­ziert, um die Langlebigkeit, Stabilität und den Erinnerungscharakter von Zeichen erklär­bar zu machen: Dinge wer­den zu „kris­tal­li­sier­tem Sinn“ (MIKLAUTZ 1996). Dabei ist strit­tig, wie Bedeutungen in Dinge ein­ge­schrie­ben wer­den und ob jeweils kul­tur- und milieu­spe­zi­fi­sche Bedeutungsinhalte über­haupt anhand der Form der mate­ri­el­len Kultur fest­ge­stellt wer­den kön­nen. Ansätze, wel­che Bedeutungen als kul­tu­relle „Texte“ ver­ste­hen, wel­che gele­sen bzw. deco­diert wer­den könn­ten, wer­den inzwi­schen auf­grund ihrer nicht all­ge­mein gül­ti­gen Syntax und der feh­len­den Abgeschlossenheit und Kohärenz kri­tisch betrach­tet. Optimistischer wer­den dage­gen die Möglichkeiten ein­ge­schätzt, die Bedeutungsänderungen und ‑zuschrei­bun­gen anhand der kon­kre­ten Verwendungen von Dingen zu ana­ly­sie­ren (KIENLIN 2005; HOFMANN und SCHREIBER 2014). [StS]

      Quellen:
      HOFMANN, Kerstin P., und SCHREIBER, Stefan. „Materielle Kultur“. In: MÖLDERS, Doreen, und WOLFRAM, Sabine, (Hrsgg.). Schlüsselbegriffe der Prähistorischen Archäologie. Münster, New York 2014, 179–183.
      KIENLIN, Tobias L., (Hrsg.). Die Dinge als Zeichen: Kulturelles Wissen und mate­ri­elle Kultur. Internationale Fachtagung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 3. — 5. April 2003. Bonn 2005.
      MIKLAUTZ, Elfie. Kristallisierter Sinn. Ein Beitrag zur sozio­lo­gi­schen Theorie des Artefakts. München 1996.
      POMIAN, Krzysztof. Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988.
    4. Praxeologische Ansätze der Soziologie, der Kultur- und Sozialanthropologie sowie der Archäologie begrei­fen Dinge als mate­ri­elle Bedingungen und Ergebnisse von sozia­len und kul­tu­rel­len Handlungsvollzügen. Dinge par­ti­zi­pie­ren daher an Handlungen und sind immer auch sozial. Ihnen wird ein Social Life of Things zuge­stan­den, das es z. B. mit­tels Objektbiographien zu unter­su­chen gilt (APPADURAI 1986). Das Soziale als Mensch-Mensch-Beziehung wird damit um die Untersuchung von Mensch-Ding-Beziehungen ergänzt. Dadurch ste­hen nicht die essen­ti­el­len Eigenschaften der Dinge im Fokus, son­dern die mit den Dingen ver­bun­de­nen Praktiken der Produktion, Distribution und Konsumtion inklu­sive der damit ver­bun­de­nen Bedeutungszuschreibungen und kul­tu­rel­len Verflechtungen (STOCKHAMMER 2011). Archäologisch und eth­no­lo­gisch sind diese Ansätze ins­be­son­dere mit der Konsumforschung ver­bun­den (MILLER 1987). [StS]

      Quellen:
      APPADURAI, Arjun, (Hrsg.). The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective. Cambridge 1986.
      MILLER, Daniel. Material Culture and Mass Consumption. Oxford 1987.
      STOCKHAMMER, Philipp W. „Von der Postmoderne zum prac­tice turn: Für ein neues Verständnis des Mensch-Ding-Verhältnisses in der Archäologie“. In: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 52.2 (2011), 188–214.
    5. In post­hu­ma­nis­ti­schen Diskursen der Philosophie, der femi­nis­ti­schen Theorie und der Kulturwissenschaften wer­den Dinge in Anlehnung an die ety­mo­lo­gi­sche Herleitung des alt­germ. Thing und der Philosophie Martin HEIDEGGERS als Versammlungen wider­strei­ten­der Bestandteile kon­zi­piert. Sie sind von Unbestimmtheit, Irritation, Eigensinn, Zufall und Abweichung geprägt. Dinge sind im Werden, in Auflösung und Neuzusammensetzung begrif­fen und damit eher Prozesse als Objekte. Das Ding wird damit zum Überbegriff für ver­schie­denste Ausprägungen und umfasst sowohl natür­li­che Phänomene, als auch je nach Konzeption nicht­mensch­li­che und mensch­li­che Bestandteile sowie ebenso vir­tu­elle und ima­gi­nierte Phänomene. Gemeinsam ist den ver­schie­de­nen Diskursen, dass sie zu einer eher onto­lo­gi­schen Sicht auf Dinge zurück­keh­ren und den Menschen als (moder­nen) Spezialfall von Ding-Versammlungen begrei­fen. Der post­hu­ma­nis­ti­sche Blick bewirkt dabei eine Verschiebung weg von den Eigenschaften und Substanzen der Dinge hin zu den Relationen und der Herausbildung von Relationen zwi­schen und in den Dingen (LATOUR 2007; BRYANT 2011). [StS]

      Quellen:
      BRYANT, Levi R. The Democracy of Objects. Ann Arbor 2011. 
      LATOUR, Bruno. Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a. M 2007. 
  2. Literatur zum Begriff
  3. HILGERT, Markus, HOFMANN, Kerstin P., und SIMON, Henrike, (Hrsgg.). Objektepistemologien. Zum Verhältnis von Dingen und Wissen. Berlin 2018.
    HOFMANN, Kerstin P., MEIER, Thomas, MÖLDERS, Doreen, und SCHREIBER, Stefan, (Hrsgg.). Massendinghaltung in der Archäologie. Der mate­rial turn und die Ur-und Frühgeschichte. Leiden 2016.
    JOST, Susanne Christina. Pro Memoria – Das Ding. Ein Beitrag zur eth­no­lo­gi­schen Wiederentdeckung des Dings. Weimar 2001.
    SAMIDA, Stefanie, EGGERT, Manfred K. H., und HAHN, Hans Peter, (Hrsgg.). Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart/Weimar 2014.
    SCHREIBER, Stefan. „Von kul­tu­rel­len Objekten zu trans­kul­tu­rel­len Dingversammlungen? Archäologie aus neo-mate­ria­lis­ti­scher Perspektive“. In: Jahrbuch der a.r.t.e.s Graduate School for the Humanities Cologne 2015/16. Köln 2016, 96–106.
  4. Weiterführende Links
  5. Artikel „Materielle Kultur“ bei Docupedia
    Webseite von Hans Peter Hahn zur Materiellen Kultur

PDF Zitiervorschlag: Stefan Schreiber, „Dinge“, Version 1.0, 10.10.2017, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/
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