Innovation

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INNOVATION

Version 1.1 (10.10.2017; erhal­ten am: 09.05.2017)

Autor: Christian Barth

Zum Wort
Vom lat. inno­vare (erneu­ern) abstam­mend wer­den unter Innovationen Neuerungen oder Erneuerungen ver­stan­den, die vor allem Gesellschaft, Politik, Wirtschaft oder Technik betref­fen und in Fachdisziplinen wie der Soziologie, Politikwissenschaft, Ökonomie, Technikphilosophie und ver-schie­de­nen Geschichtswissenschaften unter­sucht wer­den. [CB]

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte











  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. In der Ökonomie spielt der Begriff der Innovation eine zen­trale Rolle. Nach Joseph SCHUMPETERS Innovationstheorie stel­len inno­va­tive Unternehmer die maß­geb­li­chen Antreiber für wirt­schaft­li­ches Wachstum in moder­nen Marktwirtschaften dar (SCHUMPETER 1912). Über Innovationen hat der Unternehmer die Möglichkeit, eine zumin­dest kurz­fris­tige Monopolstellung am Markt zu erlan­gen, die ihm aller­dings von imi­tie­ren­den Konkurrenten strei­tig gemacht wird. Von Produktinnovationen unter­schei­det SCHUMPETER orga­ni­sa­to­ri­sche Innovationen im Unternehmen und Verfahrensinnovationen der Herstellung. Von dem eigent­li­chen Innovationsprozess grenzt SCHUMPETER die vor­gän­gige Inventionsphase und die nach­fol­gende Verbreitungsphase ab. Everett ROGERS teilt unter­neh­me­ri­sche Innovationsprozesse in sechs Phasen ein, die auch die Verbreitung ein­schlie­ßen: Problem- bzw. Bedürfniserfassung, Forschung, Entwicklung, Kommerzialisierung, Verbreitung und Innovationsfolgen. Den typi­schen Verbreitungsverlauf (5. Phase) von Innovationen ver­sucht ROGERS kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­re­tisch zu erklä­ren (ROGERS 2003). In der Nachkriegsökonomie sind zudem eine Reihe von Modellen ent­wi­ckelt wor­den, wel­che die wesent­li­chen Aspekte von Produktinnovationen erfas­sen sol­len. Roy ROTHWELL zeich­net die fol­gende Abfolge von Modellen zwi­schen den 1960er und 1990er Jahren nach: (1) „tech­no­logy push“-Modell (späte 1950er und 1960er Jahre); (2) „need pull“-Modell (zweite Hälfte der 1960er Jahre); (3) „cou­pling model“ (1970er und 1980er Jahre); (4) „inte­gra­ted model“ (1980er Jahre); (5) „sys­tems inte­gra­tion and net­wor­king model“ (1990er Jahre). Die Abfolge die­ser Modelle reflek­tiert Befunde aus empi­ri­schen Untersuchungen und zeich­net ver­mu­tete Veränderungen in den öko­no­mi­schen Innovationsprozessen der ent­spre­chen­den Zeitspannen nach. [CB]

      Quellen:
      SCHUMPETER, Joseph. Theorie der wirt­schaft­li­chen Entwicklung. Leipzig 1912. 
      ROGERS, Everett M. Diffusion of Innovations. New York 2003. 
      ROTHWELL, Roy. „Successful indus­trial inno­va­tion: cri­ti­cal fac­tors for the 1990s“. In: R&D Management 22.3 (1992), 221–239.
    2. Im kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Diskurs wer­den Innovationen zur Erklärung kul­tu­rel­len Wandels her­an­ge­zo­gen. Homer G. BARNETT unter­sucht in sei­nem Grundlagenwerk Innovationsprozesse, die zu kul­tu­rel­lem Wandel füh­ren, deren Bedingungen und Konsequenzen (BARNETT 1953). Während sich der Innovationsbegriff im öko­no­mi­schen Diskurs auf Produkte, betrieb­li­che Organisation und Herstellungsverfahren bezieht, ver­wen­det der kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Diskurs einen weit­aus all­ge­mei­ne­ren, men­ta­len Innovationsbegriff. Jede neue Idee wird hier bereits als eine Innovation auf­ge­fasst, wobei die Ideen nur unter Umständen Ausdruck im Verhalten oder in her­ge­stell­ten Gegenständen fin­den (BARNETT 1953, 7). Ein ähn­lich all­ge­mei­ner Begriff von Innovation fin­det sich auch bei ROGERS, der aller­dings dar­auf hin­weist, dass Innovationen nur als neu emp­fun­den wer­den, aber nicht neu sein müs­sen (ROGERS 2003, 36). [CB]

      Quellen:
      BARNETT, Homer G. Innovation: The Basis of Cultural Change. New York 1953.
      ROGERS, Everett M. Diffusion of Innovations. New York 2003. 
    3. In der Soziologie wer­den vor allem die Verbreitung und die Effekte von erfolg­rei­chen Innovationen unter­sucht. Der Grund für diese Schwerpunktsetzung ist darin zu suchen, dass erst durch die Diffusion gesell­schafts­weite und somit sozio­lo­gisch rele­vante Effekte ent­ste­hen. Dies bedeu­tet, dass die Diffusionsphase von Innovationsprozessen fokus­siert wird, wäh­rend die frü­he­ren Phasen von Innovationsprozessen außen vor blei­ben. [CB]

    4. In der Archäologie sind die ers­ten Phasen von Innovationsprozessen im empi­ri­schen Befund kaum greif­bar. Das archäo­lo­gi­sche Forschungsinteresse gilt daher vor allem der Phase der Verbreitung, das sich in der raum­zeit­li­chen Verteilung archäo­lo­gi­scher Funde able­sen lässt. [CB]
  2. Literatur zum Begriff
  3. DOSI, Giovanni. „Technological para­digms and tech­no­lo­gi­cal tra­jec­to­ries“. In: Research Policy 11 (1982), 147–162.
    FINLEY, Moses I. „Innovation and Economic Progress in the Ancient World“. In: The Economic History Review 18.1 (1965), 29–45.
    BLÄTTEL-MINK, Birgit, (Hrsg.). Kompendium der Innovationsforschung. Wiesbaden 2006.
  4. Weiterführende Links

PDF Zitiervorschlag: Christian Barth, „Innovation“, Version 1.1, 10.10.2017, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/
FUDOCS_document_000000027416


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This work is licen­sed under a Creative Commons Attribution-NoDerivatives 4.0 International License.

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Gedächtnis

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GEDÄCHTNIS

Version 1.1 (10.10.2017; erhal­ten am: 16.12.2016)

Autorin: Katharina Steudtner

Zum Wort
Das fran­zö­si­sche Wort Mémoire hat im Deutschen mit Gedächtnis (pas­siv, im Sinne eines Speichers) und Erinnerung (akti­ver Prozess, an die Tätigkeit des Erinnerns geknüpft) zwei Bedeutungen. Die Verwendung die­ser Begriffe wird im deutsch­spra­chi­gen kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen und kul­tur­his­to­ri­schen Kontext kon­tro­vers dis­ku­tiert; teil­weise wird Gedächtnis im Sinne einer „Fremd-Erinnerung“ ver­wen­det (HIMMELMANN 2000, 57). Im Zusammenhang mit den fran­zö­sisch­spra­chi­gen Arbeiten von Maurice HALBWACHS und Pierre NORA zeigt sich das Problem einer adäqua­ten sprach­li­chen Übersetzung von Mémoire, milieux de mémoire etc. ins Deutsche. [KSt]

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte
















  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. Als Grundannahme der sozial- und kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Gedächtnisforschung kann gel­ten, dass das Gedächtnis Erinnerung erst ermög­licht. Um Erinnerung zu erzeu­gen, brau­chen Menschen das Gehirn als orga­ni­sche Basis einer vir­tu­el­len und mani­fes­ten Infrastruktur, aber auch externe Erinnerungsspeicher. Erinnerbar ist, was im Austausch via Sprache, Zeichen, Geste etc. ande­ren mit­teil­bar ist. Erinnerung ist damit Form und Ausdruck mensch­li­cher Kommunikation. Hierbei kann unter­schie­den wer­den zwi­schen indi­vi­du­el­lem und sozial-kol­lek­ti­vem Gedächtnis und – in zeit­li­cher Hinsicht – zwi­schen Erinnerung als (1) Primärerfahrung im Sinne einer Zeitzeugenschaft, (2) Öffentlicher Erinnerungskultur bzw. Kommunikativem Gedächtnis als münd­li­cher, grup­pen­ge­bun­de­ner Überlieferung und (3) Geschichtswissenschaft (nach MOLLER 2010). [KSt]

      Quellen:
      MOLLER, Sabine. „Erinnerung und Gedächtnis“. Version 1.0 (12.04.2010). In: Docupedia-Zeitgeschichte.
      http://docupedia.de/zg/Erinnerung_und_Gedächtnis
    2. Der Soziologe Maurice HALBWACHS beschrieb in der ers­ten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus sozi­al­kon­struk­ti­vis­ti­scher Sicht, wie indi­vi­du­elle Akteure ihre Vergangenheit wie­der- und wei­ter­ge­ben und dabei ver­än­dern. Er ver­wandte hier­für den Begriff mémoire coll­ec­tive. Von der Vergangenheit bliebe nur, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegen­wär­ti­gen Bezugsrahmen rekon­stru­ie­ren kann“ (HALBWACHS 1925/1985, S. 390). Gedächtnis ist nach ihm also immer auch und zuerst ein sozia­les und aktu­el­les Phänomen. [KSt]

      Quellen:
      HALBWACHS, Maurice. Das Gedächtnis und seine sozia­len Bedingungen. Frankfurt a. M. 1985 [1925].
      HALBWACHS, Maurice. Das kol­lek­tive Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1991 [1950].
    3. Der Historiker Pierre NORA ent­wi­ckelte in den 1980er Jahren, zunächst anhand fran­zö­si­scher Beispiele, das wirk­mäch­tige Konzept der Erinnerungsorte. An bestimm­ten Orten oder his­to­risch-sozia­len Bezugspunkten kris­tal­li­siere sich das kol­lek­tive Gedächtnis einer sozia­len Gruppe (für NORA vor allem der fran­zö­si­schen Nation) aus. Sie seien not­wen­dig, da es keine Erinnerungs-kul­tu­ren – franz.: milieux de mémoire – mehr gäbe. NORA unter­schei­det fer­ner zwi­schen dem Gedächtnis, das Erinnerungen sakra­li­siere, und der Geschichtswissenschaft, die Erinnerungen sys­te­ma­tisch „ent­zau­bere“. Das Konzept wurde von STEIN-HÖLKESKAMP und HÖLKESKAMP auf die römi­sche (2006) und grie­chi­sche Antike (2010) über­tra­gen. [KSt]

      Quellen:
      NORA, Pierre. Les Lieux de mémoire. 3 Bände. Paris 1984–1992.
      STEIN-HÖLKESKAMP, Elke, und HÖLKESKAMP, Karl-Joachim, (Hrsgg.). Erinnerungsorte der Antike – Bd. 1: Die römi­sche Welt. München 2006; Bd. 2: Die grie­chi­sche Welt. München 2010.
    4. Aus his­to­risch-kul­tur­wis­sen­schaft­li­cher Perspektive fas­sen Aleida und Jan ASSMANN unter dem Begriff Kollektives Gedächtnis das kom­mu­ni­ka­tive und das kul­tu­relle Gedächtnis zusam­men. Während das all­tags­nahe, grup­pen­ge­bun­dene kom­mu­ni­ka­tive Gedächtnis etwa 80 Jahre umfasst, schließt das kul­tu­relle Gedächtnis nach A. und J. ASSMANN den Nachlass aller Schriften, archäo­lo­gi­schen Artefakte und Relikte und auch das imma­te­ri­elle Erbe der Menschheit ein. Träger der Vermittlung sind externe Speichermedien und kul­tu­relle Praktiken. A. ASSMANN bezeich­net sie, anknüp­fend an das „exter­nal sym­bo­lic sto­rage sys­tem“ von Merlin DONALD (1991, 311), als Wissensspeicher. [KSt]

      Quellen:
      ASSMANN, Aleida. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kul­tu­rel­len Gedächtnisses. München 2006.
      ASSMANN, Jan. „Kollektives Gedächtnis und kul­tu­relle Identität“. In: Ders. und HÖLSCHER, Tonio, (Hrsgg.). Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, 9–19.
      DONALD, Merlin. Origins of the Modern Mind. Cambridge (Mass.) 1991.
    5. Im Diskurs um Erinnerung, Tradition und Identität war die Auseinandersetzung mit der jün­ge­ren Geschichte und ins­be­son­dere mit dem Holocaust ein wesent­li­cher Motor. In Deutschland, Österreich, aber auch ande­ren euro­päi­schen Ländern ent­stand mit der Frage nach der Involvierung der eige­nen Gesellschaft eine neue Form gesell­schaft­li­chen Erinnerns: das nega­tive Gedenken an die eigene Schuld. Während das natio­nale Gedächtnis in der Regel auf eine posi­tive Identitätsstiftung aus der Vergangenheit zielt (z. B. durch Bezugnahme auf die natio­nale Erfolgsgeschichte oder einen gemein­sa­men Opferstatus), rich­tet sich das „Schuldgedächtnis“ auf im Namen des eige­nen Kollektivs began­gene Verbrechen und die „Frage indi­vi­du­el­ler und kol­lek­ti­ver Mitverantwortung“ (nach UHL 2010). [KSt]

      Quellen:
      UHL, Heidemarie. „Warum Gesellschaften sich erin­nern“. In: Erinnerungskulturen. Informationen zur poli­ti­schen Bildung, Bd. 32. Hrsg. vom Forum Politische Bildung. Innsbruck u. a. 2010, 5–14.
    6. Museen als Orte der Sammlung und Präsentation von Artefakten, archäo­lo­gi­sche Stätten und Baudenkmale sind als Zeugnisse mate­ri­el­ler Erinnerungskultur ein wich­ti­ger und zu bewah­ren­der Teil des kul­tu­rel­len Gedächtnisses. Entsprechend wer­den spe­zi­fi­sche Diskurse in der Anthropologie, Museologie oder Archäologie geführt (s. MACDONALD / Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage). Auch in der Denkmalpflege wird über Erinnerung debat­tiert (s. MEIER und WOHLLEBEN 2000), doch erschwert das aus­dif­fe­ren­zierte kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Themenfeld den brei­ten, kon­ti­nu­ier­li­chen Fachdiskurs (nach BINNEWERG 2013). [KSt]

      Quellen:
      MACDONALD, Sharon, und Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage.
      https://www.euroethno.hu-berlin.de/de/carmah
      MEIER, Hans-Rudolf, und WOHLLEBEN, Marion, (Hrsgg.). Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Zürich 2000. 
      BINNEWERG, Anke. „Menschen und Steine. Die Anwendbarkeit von Maurice Halbwachs‘ Thesen zu Erinnerung und Raum für die Denkmalpflege“. In: MEIER, Hans-Rudolf, SCHEUERMANN, Ingrid, et al. (Hrsgg.). Werte. Begründungen der Denkmalpflege. Berlin 2013, 90–99.
  2. Literatur zum Begriff
  3. ERLL, Astrid. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung. Stuttgart 2011.
    HIMMELMANN, Nikolaus. „Archäologie gleich Erinnerung?” In: MEIER und WOHLLEBEN (s. 1.6), 47–57.
  4. Weiterführende Links
  5. Aleida Assmann. Soziales und kol­lek­ti­ves Gedächtnis.
    www.bpb.de/system/files/pdf/0FW1JZ.pdf
    Kristiane Janeke. „Zeitgeschichte in Museen – Museen in der Zeitgeschichte“. Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte.

PDF Zitiervorschlag: Katharina Steudtner, „Gedächtnis“, Version 1.1, 10.10.2017, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/
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Dinge

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DINGE

Version 1.0 (10.10.2017; erhal­ten am: 14.12.2016)

Autor: Stefan Schreiber

Zum Wort
In der grie­chi­schen Philosophie wurde häu­fig prag­mata im Sinne von Sache, Beschäftigung oder Angelegenheit ver­wen­det. Dies ent­spricht in etwa den lat. res und causa, Ding und Sache. Das in den ger­ma­ni­schen Sprachen ver­wen­dete Þing/Thing/Ding geht auf germ. *þenga- zurück und meint Übereinkommen bzw. (Gerichts-)Versammlung. [StS]

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte













  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. Im onto­lo­gi­schen Sinne wer­den Dinge seit der Antike als phy­si­sche und der Wahrnehmung zugäng­li­che Erscheinungsformen des Seins ver­stan­den. Strittig ist, was sie als Entitäten aus­macht und zusam­men­hält. Insbesondere der Atomismus LEUKIPPS und DEMOKRITS sowie die Unterscheidung in Materie/Stoff (gr. hýlē) und Form (gr. mor­phḗ) in der Substanzlehre ARISTOTELES’ (Metaphysik) präg­ten die antike Diskussion. PLATON dage­gen ent­warf in sei­ner Ideenlehre die Dinge als ver­gäng­li­che Abbilder (gr. eidos) unver­gäng­li­cher Ideen. Erst die Ideen gäben den Dingen Sein und Wesen (gr. ousía). Damit schuf er eine Unterscheidung, die René DESCARTES in einen Dualismus umwan­delte, der Leib/Körper einer­seits und Seele/Geist ande­rer­seits schied. Bis heute wirkt die­ser Dualismus in Form der Trennung von Objekt und Subjekt fort (BECKERMANN 1999). [StS]

      Quellen:
      BECKERMANN, Ansgar. „Leib-Seele-Problem“. In: SANDKÜHLER, Hans Jörg, (Hrsg.), Enzyklopädie der Philosophie, Band 1. Hamburg 1999, 766–774.
    2. Ethnologie und archäo­lo­gi­sche Praktiken und Methoden gren­zen die Untersuchung von Dingen oft auf mensch­lich her­ge­stellte oder ver­wen­dete Artefakte ein. Da sich deren Form und Funktion nach den jewei­li­gen kul­tu­rel­len Vorstellungen rich­ten, spricht man meist von Materieller Kultur oder Sachkultur (HAHN 2005). Die Ansätze unter­schei­den sich einer­seits durch funk­tio­na­lis­ti­sche und evo­lu­tio­nis­ti­sche Fragestellungen zur Entwicklung des Menschen gene­rell und ande­rer­seits zu kul­tur­spe­zi­fi­schen Herstellungsprozessen ein­zel­ner Zeit-Räume. In ers­te­rem Fall steht die Anpassungsleistung des Menschen an natür­li­che Anforderungen im Mittelpunkt. Energetischer und Ressourcenaufwand sowie tech­no­lo­gi­sche Innovationen sind die Hauptindikatoren sol­cher Artefaktentwicklung. In kul­tur­spe­zi­fi­schen Fragestellungen wer­den vor allem chrono-typo­lo­gi­sche Ausprägungen von Artefakten ana­ly­siert. Untersuchungen zu Form- und Stilentwicklungen tre­ten neben jene tech­no­lo­gi­scher chaîne ope­ra­toires (LEMONNIER 1992). Über Artefaktverbreitungen wer­den weit­rei­chende kul­tur­his­to­ri­sche Fragestellungen wie Austauschbeziehungen, kul­tu­relle Räume, Normen und Grenzen beant­wor­tet. [StS]

      Quellen:
      HAHN, Hans Peter. Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin 2005.
      LEMONNIER, Pierre. Elements for an Anthropology of Technology. Ann Arbor 1992. 
    3. Als Zeichen- und Bedeutungsträger wer­den Dinge in semio­ti­schen und kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­re­ti­schen Ansätzen begrif­fen. Diese Bedeutungen wer­den den vor­ran­gig auf­grund von Form und Material fest­ge­leg­ten Funktionen ent­ge­gen­ge­stellt. Dinge kön­nen zwar ihre prak­ti­sche Funktion ein­bü­ßen, als Semiophoren – Bedeutungsträger – im musea­len oder Grabkontext jedoch immer noch als „Repräsentanten des Unsichtbaren“ (POMIAN 1988, 58) die­nen. Die mate­ri­elle Dimension von Dingen wird hier­bei auf ihre Dauerhaftigkeit redu­ziert, um die Langlebigkeit, Stabilität und den Erinnerungscharakter von Zeichen erklär­bar zu machen: Dinge wer­den zu „kris­tal­li­sier­tem Sinn“ (MIKLAUTZ 1996). Dabei ist strit­tig, wie Bedeutungen in Dinge ein­ge­schrie­ben wer­den und ob jeweils kul­tur- und milieu­spe­zi­fi­sche Bedeutungsinhalte über­haupt anhand der Form der mate­ri­el­len Kultur fest­ge­stellt wer­den kön­nen. Ansätze, wel­che Bedeutungen als kul­tu­relle „Texte“ ver­ste­hen, wel­che gele­sen bzw. deco­diert wer­den könn­ten, wer­den inzwi­schen auf­grund ihrer nicht all­ge­mein gül­ti­gen Syntax und der feh­len­den Abgeschlossenheit und Kohärenz kri­tisch betrach­tet. Optimistischer wer­den dage­gen die Möglichkeiten ein­ge­schätzt, die Bedeutungsänderungen und ‑zuschrei­bun­gen anhand der kon­kre­ten Verwendungen von Dingen zu ana­ly­sie­ren (KIENLIN 2005; HOFMANN und SCHREIBER 2014). [StS]

      Quellen:
      HOFMANN, Kerstin P., und SCHREIBER, Stefan. „Materielle Kultur“. In: MÖLDERS, Doreen, und WOLFRAM, Sabine, (Hrsgg.). Schlüsselbegriffe der Prähistorischen Archäologie. Münster, New York 2014, 179–183.
      KIENLIN, Tobias L., (Hrsg.). Die Dinge als Zeichen: Kulturelles Wissen und mate­ri­elle Kultur. Internationale Fachtagung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 3. — 5. April 2003. Bonn 2005.
      MIKLAUTZ, Elfie. Kristallisierter Sinn. Ein Beitrag zur sozio­lo­gi­schen Theorie des Artefakts. München 1996.
      POMIAN, Krzysztof. Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988.
    4. Praxeologische Ansätze der Soziologie, der Kultur- und Sozialanthropologie sowie der Archäologie begrei­fen Dinge als mate­ri­elle Bedingungen und Ergebnisse von sozia­len und kul­tu­rel­len Handlungsvollzügen. Dinge par­ti­zi­pie­ren daher an Handlungen und sind immer auch sozial. Ihnen wird ein Social Life of Things zuge­stan­den, das es z. B. mit­tels Objektbiographien zu unter­su­chen gilt (APPADURAI 1986). Das Soziale als Mensch-Mensch-Beziehung wird damit um die Untersuchung von Mensch-Ding-Beziehungen ergänzt. Dadurch ste­hen nicht die essen­ti­el­len Eigenschaften der Dinge im Fokus, son­dern die mit den Dingen ver­bun­de­nen Praktiken der Produktion, Distribution und Konsumtion inklu­sive der damit ver­bun­de­nen Bedeutungszuschreibungen und kul­tu­rel­len Verflechtungen (STOCKHAMMER 2011). Archäologisch und eth­no­lo­gisch sind diese Ansätze ins­be­son­dere mit der Konsumforschung ver­bun­den (MILLER 1987). [StS]

      Quellen:
      APPADURAI, Arjun, (Hrsg.). The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective. Cambridge 1986.
      MILLER, Daniel. Material Culture and Mass Consumption. Oxford 1987.
      STOCKHAMMER, Philipp W. „Von der Postmoderne zum prac­tice turn: Für ein neues Verständnis des Mensch-Ding-Verhältnisses in der Archäologie“. In: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 52.2 (2011), 188–214.
    5. In post­hu­ma­nis­ti­schen Diskursen der Philosophie, der femi­nis­ti­schen Theorie und der Kulturwissenschaften wer­den Dinge in Anlehnung an die ety­mo­lo­gi­sche Herleitung des alt­germ. Thing und der Philosophie Martin HEIDEGGERS als Versammlungen wider­strei­ten­der Bestandteile kon­zi­piert. Sie sind von Unbestimmtheit, Irritation, Eigensinn, Zufall und Abweichung geprägt. Dinge sind im Werden, in Auflösung und Neuzusammensetzung begrif­fen und damit eher Prozesse als Objekte. Das Ding wird damit zum Überbegriff für ver­schie­denste Ausprägungen und umfasst sowohl natür­li­che Phänomene, als auch je nach Konzeption nicht­mensch­li­che und mensch­li­che Bestandteile sowie ebenso vir­tu­elle und ima­gi­nierte Phänomene. Gemeinsam ist den ver­schie­de­nen Diskursen, dass sie zu einer eher onto­lo­gi­schen Sicht auf Dinge zurück­keh­ren und den Menschen als (moder­nen) Spezialfall von Ding-Versammlungen begrei­fen. Der post­hu­ma­nis­ti­sche Blick bewirkt dabei eine Verschiebung weg von den Eigenschaften und Substanzen der Dinge hin zu den Relationen und der Herausbildung von Relationen zwi­schen und in den Dingen (LATOUR 2007; BRYANT 2011). [StS]

      Quellen:
      BRYANT, Levi R. The Democracy of Objects. Ann Arbor 2011. 
      LATOUR, Bruno. Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a. M 2007. 
  2. Literatur zum Begriff
  3. HILGERT, Markus, HOFMANN, Kerstin P., und SIMON, Henrike, (Hrsgg.). Objektepistemologien. Zum Verhältnis von Dingen und Wissen. Berlin 2018.
    HOFMANN, Kerstin P., MEIER, Thomas, MÖLDERS, Doreen, und SCHREIBER, Stefan, (Hrsgg.). Massendinghaltung in der Archäologie. Der mate­rial turn und die Ur-und Frühgeschichte. Leiden 2016.
    JOST, Susanne Christina. Pro Memoria – Das Ding. Ein Beitrag zur eth­no­lo­gi­schen Wiederentdeckung des Dings. Weimar 2001.
    SAMIDA, Stefanie, EGGERT, Manfred K. H., und HAHN, Hans Peter, (Hrsgg.). Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart/Weimar 2014.
    SCHREIBER, Stefan. „Von kul­tu­rel­len Objekten zu trans­kul­tu­rel­len Dingversammlungen? Archäologie aus neo-mate­ria­lis­ti­scher Perspektive“. In: Jahrbuch der a.r.t.e.s Graduate School for the Humanities Cologne 2015/16. Köln 2016, 96–106.
  4. Weiterführende Links
  5. Artikel „Materielle Kultur“ bei Docupedia
    Webseite von Hans Peter Hahn zur Materiellen Kultur

PDF Zitiervorschlag: Stefan Schreiber, „Dinge“, Version 1.0, 10.10.2017, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

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Versionsgeschichte
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Wissen

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WISSEN

Version 1.1 (10.10.2017; erhal­ten am: 06.1.2017)

Autor: Werner Kogge

Zum Wort
Wissen ist ein Begriff, der sowohl in Philosophie und Wissenschaftstheorie, als auch in ver­schie­de­nen Sozial- und Kulturwissenschaften eine maß­geb­li­che Rolle spielt. Die phi­lo­so­phi­sche Tradition weist eine Kontinuität von gr. epis­tēmē und lat. sci­en­tia zu engl. know­ledge, sci­ence, frz. savoir, sci­ence und dt. Wissen, Wissenschaft auf. [WK]

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte







  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. In phi­lo­so­phi­scher Tradition ist ein zen­tra­les Motiv des Wortgebrauchs das der Erkenntnissicherung. PLATON und ARISTOTELES arbei­ten dazu die Unterscheidung zwi­schen epis­tēmē (Wissen) einer­seits, und Überzeugung und Meinung (pís­tis; dóxa) ande­rer­seits her­aus: Während Überzeugungen und Meinungen falsch sein kön­nen, zeichne sich Wissen durch Passung an die Ordnung des Seienden aus. Dieser Aspekt des Begriffs ‘Wissen’ ist in der Geschichte der Philosophie kon­ti­nu­ier­lich tra­diert wor­den und mün­dete in der kano­ni­schen Formel, Wissen sei ‘gerecht­fer­tigte, wahre Überzeugung’. Andere Aspekte der Wissensproblematik unter­la­gen dage­gen tief­grei­fen­den Transformationen. So war z. B. der grie­chi­sche Begriff der epis­tēmē mit der Annahme einer unver­än­der­li­chen Ordnung des Seienden ver­bun­den. In moder­nen Wissenstheorien wurde dage­gen der Unterschied zwi­schen ‘wis­sen’ einer­seits und ‘mei­nen’, ‘glau­ben’ etc. ande­rer­seits sub­jekt­theo­re­tisch, logisch oder sprach­prag­ma­tisch gedeu­tet. [WK]

      Quellen:
      PLATON. Gorgias 454b. 
      ARISTOTELES. Nikomachische Ethik, Buch VI, Kap. 3 u. 4. 
    2. Mit dem Entstehen von Geschichts‑, Sozial- und Kulturwissenschaften im 19. Jahrhundert trat als wei­te­res Begriffsmotiv die Einsicht in die his­to­ri­sche und soziale Rolle von Wissen her­vor. Charakteristisch für diese Diskurse ist, dass sie das Handeln und Denken von Menschen in Hinsicht auf deren kol­lek­tive Konstitution und Relevanz betrach­ten: wel­che Praktiken, Normen, Überzeugungen, Denkformen und Symbolismen las­sen sich in einer Kultur / Gesellschaft/ Epoche beob­ach­ten, wel­che cha­rak­te­ri­sie­ren sie und wel­che tau­gen als Mittel der Erklärung, wenn es darum geht, gesell­schaft­li­che Transformationen oder auch das Verhalten bestimm­ter Gesellschaftsteile oder ‑mit­glie­der zu beschrei­ben. Das bedeu­tet zum einen, dass Wissen somit selbst zu einem wis­sen­schaft­li­chen Gegenstand wird, der beob­ach­tet und sozi­al­räum­lich ver­or­tet wer­den kann, zum ande­ren, dass Wissen in sei­ner Funktion für die Konstitution von Kollektiven und Gesellschaften in den Blick genom­men wird. Eine zen­trale Rolle in die­sem Sinne spielt der Wissensbegriff in der Wissenssoziologie (SCHELER; MANNHEIM), in struk­tu­ra­lis­ti­schen und post­struk­tu­ra­lis­ti­schen Ansätzen (LÉVI-STRAUSS; FOUCAULT) und in der Epistemologie der Naturwissenschaften (FLECK; KUHN; CANGUILHEM). [WK]

      Quellen:
      MANNHEIM, Karl. Ideologie und Utopie. Frankfurt/M. 1985 [1929].
    3. Im sprach­phi­lo­so­phi­schen Diskurs um com­mon sense, Alltagswissen und gewöhn­li­che Sprache (ordi­nary lan­guage) des frü­hen 20. Jahrhunderts wurde die Unterscheidung von prak­ti­schem und theo­re­ti­schem Wissen zu einem pro­mi­nen­ten Thema. Als Vorläufer die­ser Einteilung wird häu­fig die aris­to­te­li­sche Distinktion von techné (Könnerschaft) und epis­tēmē (Wissen) ange­führt. Der Aspekt der Könnerschaft und Fertigkeit (techné) wurde aller­dings – in der Übersetzung mit ars – zu einem Regelwissen umge­deu­tet und kam erst mit den intel­lek­tua­lis­mus-kri­ti­schen Überlegungen der frü­hen Sprachphilosophie wie­der zu Geltung. Ludwig WITTGENSTEIN ver­half dem Gedanken einer prak­ti­schen Regelkompetenz zu Geltung und Gilbert RYLE prägte die Unterscheidung von kno­wing how und kno­wing that. Mit Michael POLANYIES Einführung des Begriffs tacit know­ledge fand das Konzept eines nicht-aus­drück­li­chen, kör­per­li­chen Wissens Eingang in die Kultur- und Wissenschaftstheorie. Im Verbund mit phä­no­me­no­lo­gi­schen Ansätzen, die den Mensch-Welt-Bezug stets schon als leib­li­che und auch mate­rial struk­tu­rierte Relation auf­fas­sen, haben in der jün­ge­ren Wissenschafts- und Techniktheorie eine Vielzahl von Ansätzen den Begriff des Wissens als eine Kompetenz ver­stan­den, die sich nicht nur im Intellekt, son­dern ebenso im Handeln, im Herstellen und auch in den her­ge­stell­ten Dingen mani­fes­tiert. [WK]

      Quellen:
      RYLE, Gilbert. Der Begriff des Geistes. Stuttgart 1969. 
      POLANYI, Michael. Implizites Wissen. Frankfurt/M. 1985 [1966].
  2. Literatur zum Begriff
  3. KOGGE, Werner. Verkörperung – Embodiment – Körperwissen: Eine his­to­risch-sys­te­ma­ti­sche Kartierung. In: RENGER, Almut, und WULF, Christoph (Hrsg.). Körperwissen: Transfer und Innovation (Paragrana: Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 25, 1). Berlin 2016, S. 33–48.
    ICHIKAWA, Jonathan Jenkins, und STEUP, Matthias. The Analysis of Knowledge. In: ZALTA, Edward N. The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Stanford 2014.
    RITTER, Joachim. Artikel ‘Wissen’. In: Ritter, Joachim (Hg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12. Basel 1972. 
  4. Weiterführende Links
  5. Ausführlicher und brauch­ba­rer Wikipedia-Artikel zu “Implizites Wissen”
    Zum Thema Epistemologie zwi­schen Geschichte und Wissenschaftsphilosophie:
    https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/de/news/features/features-feature1
    Zur Behandlung des Wissensbegriffs in der ana­ly­ti­schen Philosophie: 
    Gerhard Ernst: Der Wissensbegriff in der Diskussion

PDF Zitiervorschlag: Werner Kogge, „Wissen“, Version 1.1, 10.10.2017, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/
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Versionsgeschichte
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Narration / Erzählung

ORGANON ter­mi­no­logy tool­box (von gr. ὄργανον: Werkzeug) ist ein Instrument zur Orientierung in der Landschaft inter­dis­zi­pli­när rele­van­ter Begriffe und Theorien. Mit weni­gen Blicken fin­den Sie hier einen Überblick über rele­vante Diskurse, Grundlagentexte und wei­ter­füh­rende Links.

NARRATION / ERZÄHLUNG

Version 1.0 (21.11.2019; erhal­ten am: 15.04.2019)

Autor: Felix Wiedemann

Zum Wort
Der deut­sche Begriff „Erzählung“ lei­tet sich ver­mut­lich von der Tätigkeit des Zählens bzw. des Aufzählens (von Ereignissen, Begebenheiten) her.

Der im Englischen und Französischen gebrauchte Begriff „nar­ra­tion“ geht auf das Lateinische nar­ra­tio zurück – abge­lei­tet von gna­rus (bekannt, kun­dig, wissend). 

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte
















  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. In Anlehnung an die Poetik des ARISTOTELES fokus­sie­ren alle Annäherungen an den Erzählbegriff auf die tem­po­rale Struktur („Anfang-Mitte-Ende“) und die Verknüpfungsleistung von Erzählungen (das „Zusammensetzen der Geschehnisse“ (ARISTOTELES, Poetik 1450a)). Demnach sind Erzählungen münd­li­che oder schrift­li­che Darstellungen, die ver­schie­dene Elemente (Personen, Dinge, Ereignisse, Räume, etc.) sinn­voll mit­ein­an­der ver­knüp­fen und zeit­lich anord­nen. [FW]

      Quellen:
      ARISTOTELES. Poetik.
    2. In der phi­lo­so­phi­schen Debatte vari­iert der onto­lo­gi­sche Status der Erzählung. Eine Position geht von einem grund­le­gen­den Zusammenhang von „Leben“ und „Erzählen“ aus und begreift das mensch­li­che Leben selbst als Geschichte oder Erzählung. Der Mensch erscheint hier mit­hin als ein fun­da­men­tal „in Geschichten verstrickt[es]“ Wesen. [FW]

      Quellen:
      ARENDT, Hannah. Vita Activa oder Vom täti­gen Leben. München 2011, 213–234.
      SCHAPP, Wilhelm. In Geschichten ver­strickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt/Main 2012.
    3. Von der phi­lo­so­phi­schen Debatte lässt sich die Position des nar­ra­ti­ven Konstruktivismus unter­schei­den. Hier wird das Erzählen als (kogni­tiv ver­an­kerte) Struktur begrif­fen, der der Mensch Erfahrungen und Handlungen erst auf­er­legt, um diese in eine kohä­rente Ordnung zu über­füh­ren. Zwischen „Leben“ (bzw. „Geschehen“ und „Handeln“) und „Denken“ (bzw. Repräsentation) gibt es keine Kontinuität, son­dern einen Bruch. Paul RICŒURS dia­lek­ti­sches Modell der „drei­fa­chen Mimesis“ kom­bi­niert beide Positionen: Die prä­n­ar­ra­tive Struktur (Präfiguration) wird auf der Ebene der Erzählung gebro­chen und neu arran­giert (Refiguration) und wirkt ihrer­seits auf Leben und Handeln zurück (Konfiguration). [FW]

      Quellen:
      MINK, Louis O. „History and Fiction as Modes of Comprehension”. In: New Literary History 1 (1970), 541–558.
      RICŒUR, Paul. Zeit und Erzählung. 3 Bände. München 2007.
    4. Anders als in der Philosophie geht es in den Literaturwissenschaften um Erzählungen als eine spe­zi­fi­sche Text- und Darstellungsform. In der klas­si­schen Erzählforschung fun­giert die „Mittelbarkeit“ als Konstituens von Erzähltexten: Eine Erzählung ist dem­nach eine Geschichte, die durch eine (von der kon­kre­ten Autorin bzw. vom Autor unter­schie­dene) Erzählinstanz ver­mit­telt wird. [FW]

      Quellen:
      LÄMMERT, Eberhard. Bauformen des Erzählens. Stuttgart 2004.
      STANZEL, Franz K. Theorie des Erzählens. Göttingen 2008.
    5. Demgegenüber wird „Erzählen“ in der struk­tu­ra­lis­ti­schen Narratologie als grund­le­gen­der sprach­li­cher Modus auf­ge­fasst, der von ande­ren Modi oder Texttypen unter­schie­den wer­den kann: Im Unterschied zur Argumentation oder Deskription ist die Narration ein tem­po­ra­ler Darstellungsmodus und the­ma­ti­siert immer Veränderungen (von Zuständen oder Situationen). [FW]

      Quellen:
      GENETTE, Gerard. Die Erzählung. Paderborn 2010.
      BAL, Mieke. Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Toronto 2009, 35–47.
    6. Narratologische Ansätze wer­den zuneh­mend auch auf fak­tuale Erzählungen ange­wandt. Darunter wer­den erzäh­lende Texte ver­stan­den, die auf die Vermittlung wah­rer Sachverhalte abzie­len und von den Rezipient*innen auch ent­spre­chend ver­stan­den wer­den (unab­hän­gig davon, ob die dar­ge­stell­ten Inhalte auch tat­säch­lich wahr sind oder nicht). [FW]

      Quellen:
      GENETTE, Gerard. Fiktion und Diktion. München 1992.
      FLUDERNIK, Monika, FALKENHAYNER, Nicola, und STEINER, Julia, (Hrsgg.). Faktuales und fik­tio­na­les Erzählen. Band 1: Interdisziplinäre Perspektiven. Würzburg 2015. 
    7. Das klas­si­sche Beispiel fak­tua­ler Erzählungen stellt die Geschichtsschreibung dar, über deren Verhältnis zur Literatur seit der Antike dis­ku­tiert wird. Im Rückgriff auf lite­ra­tur­theo­re­ti­sche Ansätze hat die Historiographiegeschichte jene Strategien her­aus­ge­ar­bei­tet, mit denen in his­to­ri­schen Darstellungen Ereignisse nar­ra­tiv auf­ein­an­der bezo­gen und zu bedeu­tungs­vol­len Geschichten ver­knüpft wer­den. Während Hayden WHITE die nar­ra­tive Verknüpfung an aprio­ri­sche Strukturen kop­pelt und die Grenze zwi­schen lite­ra­ri­schen und his­to­rio­gra­phi­schen Erzählungen ver­wischt, insis­tie­ren jün­gere Arbeiten auf der Differenzierung fak­tua­len und fik­tio­na­len Erzählens und beto­nen die Variabilität his­to­rio­gra­phi­scher Erzählmuster. [FW]

      Quellen:
      WHITE, Hayden. Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore 1973.
      RÜTH, Axel. Erzählte Geschichte. Narrative Strukturen in der fran­zö­si­schen Annales-Geschichtsschreibung. Berlin 2005. 
    8. Ein ande­res Anwendungsfeld stellt die Sozialpsychologie dar. Hier haben sich Ansätze einer nar­ra­ti­ven Psychologie eta­bliert, die auf den Akt des Erzählens und seine Bedeutung bei der Repräsentation und Verarbeitung mensch­li­cher Erlebnisse fokus­sie­ren: Es ist die nar­ra­tive Repräsentation, die es erlaubt, ein auf der indi­vi­du­el­len wie kol­lek­ti­ven Ebene beson­ders dis­pa­rat und sinn­los erfah­re­nes Geschehen als eine sinn­hafte Geschichte zu erfas­sen. [FW]

      Quellen:
      SARBIN, Theodore, (Hrsg.). Narrative Psychology. The Storied Nature of Human Conduct. New York 1986.
      STRAUB, Jürgen, (Hrsg.). Erzählung, Identität und his­to­ri­sches Bewußtsein. Die psy­cho­lo­gi­sche Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt/Main 1998. 
    9. Auf einer sehr viel all­ge­mei­ne­ren Ebene set­zen Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte an und beschäf­ti­gen sich mit der epis­te­mi­schen Funktion von Erzählungen. Hier wird die nar­ra­tive Verknüpfung als eine Form des Weltzugangs oder gar der Welterzeugung begrif­fen, so dass der Erzählung nicht erst bei der Repräsentation, son­dern bereits bei der Erzeugung von Wissen eine kon­sti­tu­tive Rolle zukommt. [FW]

      Quellen:
      ENGLER, Balz, (Hrsg.). Erzählen in den Wissenschaften. Positionen, Probleme, Perspektiven. 26. Kolloquium der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Fribourg 2010.
      KLEIN, Christian, und MARTÍNEZ, Matías, (Hrsgg.). Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-lite­ra­ri­schen Erzählens. Stuttgart 2009, 1–13.
  2. Literatur zum Begriff
  3. STROHMAIER, Alexandra, (Hrsg.). Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven trans­dis­zi­pli­nä­rer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld 2013.
    MEUTER, Norbert. „Geschichten erzäh­len, Geschichten ana­ly­sie­ren. Das nar­ra­ti­vis­ti­sche Paradigma in den Kulturwissenschaften“. In: JÄGER, Friedrich, und STRAUB, Jürgen, (Hrsgg.). Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 2: Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart/Weimar 2004, 140–155.
    THOMÄ, Dieter. Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als phi­lo­so­phi­sches Problem. Frankfurt/Main 2007.
  4. Weiterführende Links
  5. Saupe, Achim, und Wiedemann, Felix. „Narration und Narratologie. Erzähltheorien in der Geschichtswissenschaft“. Version 1.0, 28.01.2015.
    In: Docupedia – Zeitgeschichte.

PDF Zitiervorschlag: Felix Wiedemann, „Narration / Erzählung“, Version 1.0, 21.11.2019,
ORGANON ter­mi­no­logy tool­box,
Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/refubium-30382

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Versionsgeschichte
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Metapher

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METAPHER

Version 1.2 (25.11.2019; erhal­ten am: 15.01.2017)

Autoren: Christian Barth, Werner Kogge, Daniel A. Werning 

Zum Wort
Das grie­chi­sche Kompositum meta­phé­rein drückt ein „Anderswohintragen“ aus.

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte














  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. In sei­ner Poetik bestimmt ARISTOTELES Metaphern als sprach­li­che Ausdrücke, die sich auf andere Dinge in der Welt bezie­hen als sie es in ihrem gewöhn­li­chen Gebrauch tun (Poetik 21, 1457b9–16 und 20–22). Er unter­schei­det vier Fälle des meta­pho­ri­schen Gebrauchs: (i) Die Bedeutung wech­selt von einem bestimm­ten Genus zu einer bestimm­ten Spezies. (ii) Sie wech­selt von einer bestimm­ten Spezies zu einem bestimm­ten Genus. (iii) Sie wech­selt von einer bestimm­ten Spezies zu einer ande­ren. (iv) Sie wech­selt durch ana­loge Übertragung. In der moder­nen Taxonomie figür­li­cher Rede gehö­ren die bei­den ers­ten Fälle zu den Synekdochen, der dritte Fall ist am ehes­ten als eine Metonymie auf­zu­fas­sen. Analogie-Metaphern kom­men dem moder­nen Verständnis von Metaphern am nächs­ten. In ihrem Fall wer­den laut ARISTOTELES die Verhältnisse zwi­schen jeweils zwei Dingen mit­ein­an­der in Beziehung gesetzt: So wie sich A zu B ver­hält, ver­hält sich C zu D. Die Bedeutung des meta­pho­risch gebrauch­ten Ausdrucks wech­selt in die­sem Fall von B (gewöhn­li­che Bedeutung) zu D (meta­pho­ri­sche Bedeutung) bzw. von D (gewöhn­li­che Bedeutung) zu B (meta­pho­ri­sche Bedeutung). Vergleiche wer­den von ARISTOTELES als Metaphern ver­stan­den. Ihre Besonderheit besteht nur im sprach­li­chen Ausdruck, der ein „wie“ ent­hält („A ist wie B“). Ihrer Natur nach unter­schei­den sie sich von Metaphern aber nicht (Rhetorik III, 1406­b20-27). [CB]

      Quellen:
      ARISTOTELES. Rhetorik, Buch III. 
      ARISTOTELES. Poetik, 21–22.
    2. Den zen­tra­len Ausgangspunkt der zeit­ge­nös­si­schen Metapherntheorie bil­det die „Interaktionstheorie der Metapher“ Max BLACKS (1996 (1954)). Grundgedanke ist hier, dass in Metaphern zwei Bedeutungssysteme mit­ein­an­der ver­knüpft wer­den und zwar so, dass ein gan­zes „System asso­zi­ier­ter Gemeinplätze“ (71) auf einen Gegenstand bezo­gen wird. Die Interaktionstheorie wider­spricht der Substitutionstheorie der Metapher, also der Auffassung, die behaup­tet, meta­pho­ri­sche Formulierungen seien nur schmü­cken­des oder ver­an­schau­li­chen­des Beiwerk und könn­ten auf wört­li­che Formulierungen zurück­ge­führt oder durch sol­che ersetzt wer­den. Paul RICŒUR, ein wei­te­rer Referenzautor der Metaphorologie im 20. Jahrhundert, hat gegen Max BLACK (dem er in vie­len Punkten folgt) ein­ge­wandt, dass die Metapher nicht als eine bloße Kombination eta­blier­ter Gemeinplätze gedacht wer­den dürfe, da auf die­sem Wege eine Substitutionstheorie nicht wirk­lich über­wun­den wer­den könne. RICŒUR schlägt dage­gen vor, die Metapher als eine „seman­ti­sche Innovation“ zu ver­ste­hen, „die in der Sprache keine Stelle als schon Eingeführtes hat.“ (RICŒUR 1986, 165) Mit die­ser Zuspitzung auf das krea­tive Moment ent­steht für RICŒUR aber das Problem, wie denn jene sprach­li­chen Figuren zu bestim­men sind, die sich als meta­pho­risch aus­wei­sen, aber alt­be­kannt sind. Zur Auflösung die­ses Problems führt RICŒUR die Unterscheidung von leben­di­ger Metapher, die „zugleich Ereignis und Sinn“ (166) ist, und toter Metapher ein, wel­che „wie­der zu einer gewöhn­li­chen Bedeutung [wird]“ (166). [WK]

      Quellen:
      RICŒUR, Paul. Die leben­dige Metapher (1975). München 1986.
      BLACK, Max. „Die Metapher“ (1954). In: HAVERKAMP, Anselm, (Hrsg.). Theorie der Metapher. Darmstadt 1996, 55–79.
    3. Für die Wissenschaftstheorie wurde der Ansatz von Mary HESSE bedeut­sam, theo­re­ti­sche Erklärung gene­rell als „meta­pho­ric rede­scrip­tion of the domain of the expla­nan­dum“ (HESSE 1966, 157) zu fas­sen. HESSE geht davon aus, dass wis­sen­schaft­li­che Erkenntnisse durch Übersetzungen in sym­bo­li­sche Artefakte gewon­nen wer­den. Mit dem Begriff rede­scrip­tion bezeich­net HESSE den Übergang von einer „‘obser­va­tion’ lan­guage“ zur Neufassung „in terms of a theo­re­ti­cal model“ (ARBIB und HESSE 1986, 156). [WK]

      Quellen:
      HESSE, Mary B. Models and Analogies in Science. Notre Dame 1966.
      ARBIB, Michael A., und HESSE, Mary B. The Construction of Reality. Cambridge 1986. 
    4. In der kon­zep­tu­el­len Metapherntheorie der kogni­ti­ven Linguistik (engl. Conceptual Metaphor Theory, CMT) wird, aus­ge­hend von George LAKOFF und Mark JOHNSON (LAKOFF und JOHNSON 1980), eine Metapher als ein Vergleich von Teilen zweier ver­schie­de­ner „kon­zep­tu­el­ler Domänen“ defi­niert. Dabei wird die eine, das Vehikel/der Bildspender, als Quelldomäne (z. B. Reise), die andere als Zieldomäne (z. B. Liebe) bezeich­net (engl. source domain, tar­get domain). Angesprochen wird die kon­zep­tu­elle Metapher in Formeln wie z. B. „Liebe ist eine Reise“. Die Interpretation der Metapher ergibt sich durch eine zumeist selek­tive, kogni­tive Überlagerung der zwei ver­gli­che­nen Domänenausschnitte (Conceptual Blending Theory). Die CMT inter­es­siert sich u. a. für die kon­zep­tu­el­len Metaphern zugrun­de­lie­gende Lebenserfahrungen, z. B. für mög­li­che kör­per­li­che Grundlagen. Hier rückt auch die Frage der Kulturabhängigkeit von Metaphern in den Blick. Konzeptuelle Metaphern wer­den nicht nur in sprach­li­chen Medien unter­sucht, son­dern auch in z. B. Gesten, Architektur und Bildern (bedeu­tend ist groß). Im Rahmen der CMT kön­nen auch expli­zite Vergleiche mit „wie“ als „signa­li­sierte“ Metaphern ver­stan­den wer­den. Im Unterschied zur Metapher stellt die Metonymie eine Ersetzung eines Begriffs durch einen ande­ren inner­halb ein und der­sel­ben kon­zep­tu­el­len Domäne dar, z. B. das Weiße Haus für den/anstelle des US-ame­ri­ka­ni­schen Präsidenten. Angesprochen wird die kon­zep­tu­elle Metonymie mit Formeln wie „Das Weiße Haus steht für den US-ame­ri­ka­ni­schen Präsidenten“). Nach RICŒUR wird nur zwi­schen „toten“ Metaphern und innovativen/„lebendigen“ Metaphern unter­schie­den (siehe oben). Ein zwei­di­men­sio­na­les Klassifizierungsmodell hat Cornelia MÜLLER (2008) vor­ge­schla­gen: Sie unter­schei­det (i) eine über­in­di­vi­du­ell-ver­all­ge­mei­nernde, gesamt­sprach­li­che Klassifizierung aus Forscher*innen-Sicht von einer (ii) Klassifizierung der Metaphern-Verwendung im kon­kre­ten Kontext (Pragmatik). Im ers­ten Fall unter­schei­det sie zwi­schen novel, ent­ren­ched und his­to­ri­cal meta­phors, im zwei­ten Fall zwi­schen waking und slee­ping meta­phors. Damit las­sen sich u. a. Phänomene beschrei­ben, bei denen der Metaphern-Charakter ein­ge­bür­ger­ter, d. h. nor­ma­ler­weise nicht kogni­tiv als Metaphern ver­ar­bei­te­ter Metaphern in einem kon­kre­ten Verwendungskontext ins Bewusstsein geho­ben wird („Erwecken von schla­fen­den Metaphern“). Die CMT inter­es­siert sich zwar auch für „inno­va­tive“, aber ins­be­son­dere für „ein­ge­bür­gerte“ und „his­to­ri­sche“ Metaphern/Metonymien. [DW]

      Quellen:
      LAKOFF, George, und JOHNSON, Mark. Metaphors We Live By. Chicago 1980.
      (dt. Leben in Metaphern: Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Aus d. Amerikan. übers. von Astrid Hildenbrand. Heidelberg 1998.) 
      RICŒUR, Paul. Die leben­dige Metapher (1975). München 1986.
      MÜLLER, Cornelia. Metaphors Dead and Alive, Sleeping and Waking. A Dynamic View. Chicago 2008.
      KÖVECSES, Zoltán. Metaphor. A Practical Introduction. Oxford 2010. 
  2. Literatur zum Begriff
  3. DEBATIN, Bernhard. Die Rationalität der Metapher: Eine sprach­phi­lo­so­phi­sche und kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­re­ti­sche Untersuchung. Berlin 1995.
    GEHRING, Petra. „Das Bild vom Sprachbild. Die Metapher und das Visuelle“. In: DANNEBERG, Lutz, SPOERHASE, Carlos, und WERLE, Dirk, (Hrsgg.). Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 2009, 81–101.
    HAVERKAMP, Anselm, (Hrsg.). Theorie der Metapher. Darmstadt 1983.
    KOGGE, Werner. „Grammatische Untersuchung und Metapherntheorie. Wie (und wie nicht) Philosophie eine kri­ti­sche Untersuchung des Sprachgebrauchs leis­ten kann“. In: Experimentelle Begriffsforschung. Philosophische Interventionen am Beispiel von Code, Information und Skript in der Molekularbiologie. Weilerswist 2017, 257–276.
  4. Weiterführende Links
  5. Open Access Fachzeitschrift metaphorik.de

PDF Zitiervorschlag: Christian Barth, Werner Kogge und Daniel A. Werning, „Metapher“, Version 1.2, 25.11.2019, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/
FUDOCS_document_00000002741


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Versionsgeschichte
  • Version 1.2 (diese Version) 
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Diagramm

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DIAGRAMM

Version 1.1 (10.10.2017; erhal­ten am: 15.1.2017)

Autor: Daniel A. Werning

Zum Wort
Das Wort diá­gramma bezeich­net im Altgriechischen eine ebene Figur, begrenzt von Linien, ins­be­son­dere eine geo­me­tri­sche Figur. 

Quellen:
LIDDELL, Henry G., und SCOTT, Robert. A Greek-English Lexicon. Bearbeitet von Sir Henry Stuart Jones. Oxford 1940. 

Inhalt
  1. Diskurse und Kontexte
  2. Literatur zum Begriff
  3. Weiterführende Links

  1. Diskurse und Kontexte
    1. Ein phä­no­me­no­lo­gi­scher, medi­en­zen­trier­ter Zugang defi­niert ein „Diagramm“ als ein Bild-Text-Hybrid (oder: Schema-Schrift-Hybrid). Dabei wird ange­merkt, dass das Hybrid über ein blo­ßes addi­ti­ves Verhältnis von Bild und Text hin­aus­geht. Für bestimmte Schrift-/Bildkulturen ergibt sich bei die­sem Ansatz das Problem, dass Bild und Text/Schrift nicht immer scharf zu tren­nen sind (iko­ni­sche Schriftzeichen, sym­bo­li­sche Bildelemente; „Schriftbildlichkeit“) (vgl. ERNST & BAUER 2010: 28f). „Diagrammatische Veranschaulichungen nut­zen […] einer­seits räum­li­che Strukturen / Lagebeziehungen auf der Schreibfläche (wie »links« und »rechts«, »oben« und »unten«, »gegen­sei­tige Nähe« und »Ferne«) und ande­rer­seits die Potentiale der mensch­li­chen Gestaltwahrnehmung (etwa die Fähigkeiten zum Zusammen- und Auseinandersehen, sowie zum Überblicken), um Sachverhalte/Relationen dar­zu­stel­len“ („Diagramm“, in: Glossar der Bild-Philosophie). [DW]

      Quellen:
      BAUER, Matthias, und ERNST, Christoph. Diagrammatik: Einführung in ein kul­tur- und medi­en­wis­sen­schaft­li­ches Forschungsfeld. Bielefeld 2010. 
    2. In der Semiotik nach Charles Sanders Peirce (1839–1914) ist ein „Diagramm“ einer von drei Ähnlichkeitstypen, die zwi­schen einem Zeichen i.e.S. (repre­sen­ta­men, ent­spricht signi­fier) und (der Vorstellung von) sei­nem Bezugsobjekt (dynamic/immediate object, ent­spricht signi­fied) bestehen kön­nen. Neben der „sym­bo­li­schen“ Zeichen–Objekt-Relation (Übereinkunft) und der „inde­xi­ka­li­schen“ Zeichen–Objekt-Relation (Kausalität) unter­schei­det er inner­halb der „iko­ni­schen“ Zeichen–Objekt-Relation (Ähnlichkeit) zwi­schen „Bildern“ („images“), „Diagrammen“ und „Metaphern“. Während Bilder (auch) „ein­fa­che Qualitäten“ ihrer Objekte wie­der­ge­ben, ähneln Diagramme ihren Objekten (nur) strukturell/schematisch, indem sie Relationen wie­der­ge­ben, wel­che ent­spre­chen­den Relationen inner­halb ihrer Objekte ana­log sind (PEIRCE 1903, EP 2:273, CP 2.277). „Many dia­grams resem­ble their objects not at all in looks; it is only in respect to the rela­ti­ons of their parts that their liken­ess con­sists“ (PEIRCE CP 2.282). [DW]

      Quellen:
      PEIRCE, Charles Sanders. On Some Topics of Logic (Lowell Lectures: Syllabus). 1903. 
    3. Die Diagrammatik-Forschung geht von der Peirce’schen Definition von Diagrammen als iko­ni­sche Relationsschemata (s.o.) aus. Mit Peirce wer­den diagrammhafte/diagrammatische Zeichen nicht nur in mate­ri­el­len, sche­ma­ti­schen Bildmedien gese­hen, son­dern auch in z.B. Texten, Theaterstücken, Filmen, Mythen, Verhaltensmustern, in Tabellen, in gespro­che­ner Sprache, in Bildern i.w.S., in (kon­zep­tu­el­len) Metaphern und ins­be­son­dere auch in Form von „men­ta­len Diagrammen“ im Denken (dia­gram­ma­tic reaso­ning, „anschau­li­ches Denken“). Die Diagrammatik-Forschung inter­es­siert sich ins­be­son­dere auch für den „semiotische[n] Übersetzungsprozess zwi­schen intern-men­ta­len Prozessen und extern-mate­ri­el­len Strukturen (und vice versa) — mit­hin zwi­schen Bewusstseins- und Kulturleistungen“ (ERNST und BAUER 2010: 22). Hinsichtlich der kogni­ti­ven Wirkung von Diagrammen sind zwei Phänomene her­aus­ge­stellt wor­den: (i) Diagramme schei­nen Schlussfolgerungen unmit­tel­bar nahe­zu­le­gen (Evidenzprinzip) und (ii) Diagramme wer­den men­tal nicht nur inter­pre­tiert, son­dern regen auch zur men­ta­len Rekonfiguration an (Virtualitätsprinzip), wodurch neue Vorstellungen ent­ste­hen kön­nen. (ERNST und BAUER 2010: 14f, 24) [DW]

      Quellen:
      BAUER, Matthias, und ERNST, Christoph. Diagrammatik: Einführung in ein kul­tur- und medi­en­wis­sen­schaft­li­ches Forschungsfeld. Bielefeld 2010. 
      STJERNFELT, Frederik. Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics. Amsterdam 2007. 
  2. Literatur zum Begriff
  3. BAUER, Matthias, und ERNST, Christoph. Diagrammatik: Einführung in ein kul­tur- und medi­en­wis­sen­schaft­li­ches Forschungsfeld. Bielefeld 2010.
    LJUNGBERG, Christina. Creative Dynamics: Diagrammatic Strategies in Narrative (Iconicity in Language and Literature 11). Amsterdam u.a. 2012.
    SCHNEIDER, Birgit, ERNST, Christoph, und WÖPKING, Jan. Diagrammatik-Reader. Grundlegende Texte aus Theorie und Geschichte. Berlin 2016.
  4. Weiterführende Links
  5. Rainer Totzke, Dimitri Liebsch, Joerg R. J. Schirra u. a. „Diagramm“, in: Glossar der Bild-Philosophie, hrsg. vom GIB Tübingen. 4.1.2014.
    Homepage von Gerhard Dirmoser (letz­ter Zugriff: 29.1.2016), mit zahl­rei­chen Dokumenten zu den Themen Diagrammatik und Mapping.

PDF Zitiervorschlag: Daniel A. Werning, „Diagramm“, Version 1.1, 10.10.2017, ORGANON ter­mi­no­logy tool­box, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.

PDF DOI: http://dx.doi.org/10.17169/
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